I, Erzählende Schriften 34, Spiel im Morgengrauen. Novelle, Seite 22




Arthur Schnitzlers „Spiel im Morgengrauen“.
S. Fischer Verlag, Berlin 1927.

Es gibt keine Alserkaserne mehr und kein k. u. k. Offi¬
zierskorps, keine Fünfguldenzettei und keine Pferdebahn.
Und man fährt nicht mehr durch die Frühlingsluft mit
zwei harben Rappen von Wien bis Baden.
In dieser nächten, also am tiefsten verfunkenen Ver¬
gangenheit trägt sich zu, was Arthur Schnitzler in seiner
jüngsten, wirklich meisterhaften Novelle erzählt. Zeitge¬
nossen, die „der heißen Gegenwart leben“ und überlegen
die Nase rümpfen, wenn ein Dichter das Milieu eben
erst abgercumter österreichischer Jahrzehnte schildert, werden
Schnitzlers Novelle als sehr überflüssig erklären. „Was
geht das uns an? Zu dieser Geschichte von dem jungen
Leutnant, welchen Kastengeist, falsche Ehrbegriffe, lächer¬
liche Angst vor „Deklassierung“ zum Selbstmord treiben,
haben toir gar kein Verhältnis. Man erinnere nicht an
diese Dummheiten, wir haben andere Sorgen. Dieser
Als wenn bei einem
Schnitzler hat sich überlebt.“
Kunstwerk das gewählte Milieu, die gewählte Zeit die
entscheidende Qualität wäre!
Nein. Just dieser Bericht von dem Leutnant Kasda,
der sich an den Spieltisch setzte, um einen Freund mit
raschem Spielgewinn zu retten, der aber nach anfänglichem
Glück selbst ins Garu gerät, eine Sxselschuld kontra¬
hiert, die er binnen 24 Stunden zahlen muß, sonst
heißt's Schluß machen mit dem jungen Leben; diese mit
unvergleichlicher Kunst der Charakteristik einer ganzen
Zahl von Menschen, der Hauptakteure, der Nebenfiguren,
ja der winzigsten Episodisten; diese herbsüße Geschichte
eines Menschen, der, von hundert Teufeln gehetzt, um
sein Leben kämpft und Haltung wahren muß bis zum
letzten Augenblick; diese herrlich gesteigerte Erzählng vom
Leben und Sterben einer Jugend, welcher „Contenance“
gleichbedeutend war mit Heroismus, ist eine der bedeu¬
tendsten Novellen, die in den letzten Jahrzehnten geschaffen
wurden. Sie ist Schnitzler, dem Sechzigjährigen gelungen,
sie ist knapper, lebensvoller noch als manches seiner er¬
zählenden Werke, deren Entstehungszeit weit zurückliegt,
wertvoller als die Schwester=Novelle vom Leutnant Gustl,
und Arthur Schnitzler so frisch und elastisch schaffen zu
sehen, ist eine große Freude.
Höhepunkte: Der Leutnant Kasda hat an den Konsul
elftausend
Baden
Schnabel am Spieltisch zu
Gulden verloren. Er weiß, was bevorsteht, wenn das
Geld zu bestimmter Stunde dem Konsul nicht eingehändigt
und die Anzeige an den Offiziersehrenrat erstattet ist. Mit
verbindlicher Höflichkeit hat ihn der Konsul eingeladen,
in seinem Fiaker, an seiner Seite nach Wien zurückzufahren.
Da sitzen die beiden im eleganten Fahrzeug und der dritte
Fahrgast ist das Gespenst des Todes. Der Konsul ist dreister
geworden in seinen Aeußerungen, rächt sich, daß er, der
Schwerreiche, unter diesen mit dem goldenen Portepec
doch nur geduldet ist. Der junge Offizier hat Aeußerun¬
gen angehört, die er hätte parieren müssen und nicht
pariert, weil er an das Ende benkt und auf den Augen¬
blick paßt, den furchtbaren Gläubiger zu einem Aufschub
zu bewegen. Und beide sind sehr höflich, sehr verländ¬
lich im Gespräch, die Bäume rauschen, der Flieder duftet
durch die Nacht, wie schön ist das Leben! — Dann der letzte
Liebesrausch, die rasenden Stunden erotischen Genusses
mit jener Frau, die der Leutnant Kasda einmal wie eine
Dirne entlohnte und die jetzt mit gleichem vergilt, indem
sie auf seine Bude kommt und ihn für eine Liebesnacht
bezahlt. Zwei Stellen dieser Novelle, wie sie in ihrer
gesammelten Kraft der Darstellung, in der Plastik der
Schilderung den erfolgreichsten „Ballern“ und Kraft¬
meiern modischer umstürzlerischer Revolutionsschriftstellerei
O. A.
nicht gelungen sind.