I, Erzählende Schriften 34, Spiel im Morgengrauen. Novelle, Seite 28

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und wie in allen seinen Werken, selbst den nicht in Oesterreich spielenden,
weht hier Wiener Luft, die den Alltagsdingen manches von ihrer Erden¬
schwere nimmt und die Tatsachenhärte erschütternder Vorgänge mildert.
„Spiel im Morgengrauen“ gehört in mancher Beziehung nicht
zu den stärksten Schöpfungen Schnitzlers (der Schluß wirkt theaterhaft
konstruiert). Aber der atmosphärische Reiz dieser Umwelt, ein heimlich
mitschwingender Walzerrhythmus, ein leiser Beiklang von Schubertscher
Musik — das ist doch wieder echter Schnitzler. Der Funfundsechzigjährige
kommt auf seine alten Lieblingsthemen und =Gestalten zurück. Im
Grunde hat er sie ja nie verlassen. Er war, ist und bleibt ein Jausen¬
Hebbel, wie Kerr ihn nennt (Jause ist ein österreichischer Ausdruck für
Vesper, Nachmittagskaffee), ein Ibsen des Dreivierteltakts. Die feschen
Militärs, die süßen Mäderln, die leichtsinnigen Melancholiker, die inter¬
essanten Künstlerinnen; die Kasernen, die Cafés, die Kranken= und
Sterbezimmer, zwischendurch ein Stückchen Natur; die Ehrenhändel, die¬
erotischen Abenteuer (auch Leutnant Willi erlebt eins), die seelischen Zu¬
stände schicksalverstrickter Menschen — das ist seine Welt, die er in immer
neuen Bildern voll aparter Stimmungsreize mit einer Erzählerkultur
und (sozusagen) psychologischen Grazie ohnegleichen vor uns erstehen läßt.
Was von Schnitzlers Schöpfungen bleiben wird, ist heute noch
nicht gewiß Unserer Gegenwart gilt er in erster Linie als der Dichter
des „Anatol“ und der „Liebelei“, jener beiden Frühwerke, in denen
er sein Bestes und Eigenstes gab, aus denen der Seelenkünder und der
Kenner Wiener Verhältnisse am unmittelbarsten zu uns spricht. Und
als solchen grüßen wir heute den ungealterten Altmeister.
Ileue Romane.
Von
[Nachdruck verboten.]
Privatdozent Dr. Erich Jenisch.
Den neuen Roman Maxim Gorkis, „Das Werk der Ar¬
Atamonows“ (Universum=Bücherei für Alle, Berlin NW 7), nimmt
man mit besonderer Erwartung zur Hand. Lange Jahre hat Gorki
geschwiegen. Nun veröffentlicht er einen Roman, der das Schicksal
vierer Generationen erzählt und der zugleich den Weg Rußlands vom
Agrar= zum Industriestaat schildert. Zu der Zeit, als die Leibeigenschaft
aufgehoben wird, beginnt die Geschichte. Der älteste Artamonow, ein
Freigelassener, gründet die Weberei. Und wenn der Roman aufhört,
ist die Revolution soeben ausgebrochen.
Also ein Roman mit kulturgeschichtlichem, wenn man will: mit
politischem Hintergrund. Gorki, der selbst aus dem Proletariat hervor¬
gegangen ist, der selbst Anteil an dem Geschick des Proletariats ge¬
nommen hat, gibt in dem Roman aber nicht die Antworten,
die man von ihm erwartet. Der neue Staat bleibt außerhalb der
Betrachtung; alle, die irgend ein politisches Bekenntnis in dem Buche
suchen, blättern in ihm vergebens.
Statt dessen zeigt sich Gorki wieder als der große Künstler des
russischen Menschen. In den Schilderungen dieser Menschen ruht der
Wert des Romans, nicht in seiner kulturellen Perspektive. Der Roman,
der die Industrialisierung Rußlands schildert, muß noch geschrieben
werden. Die Fülle der Charaktere aber, diese Bilder schwerer un
dumpfer Menschen, einfältiger Knechte, die eigentlich Weise sind,
diese Mannigfaltigkeit der Gestalten macht den Wert des Romanes a
Er ist ein breit geschriebenes Buch; man liest es langsam und ein¬
dringend. Es ist nicht aufregend, aber man nimmt Teil an dem Leben
dieser Menschen. So hinterläßt das Buch, das ohne Zweifel zu den
besten Werken des russischen Dichters gezählt werden muß, einen an¬
haltenden Eindruck.

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