I, Erzählende Schriften 30, Casanovas Heimfahrt, Seite 88

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30. Casanovas Heimfahrt
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Wiener Zeitung Nr. 1.
Tragik des Alters, noch einmal einen Triumph
erlebt und feiert, um dann die Tore des Lebens hinter
sich zuzuschlagen, um dann die Bilanz im Lebensbuch
abzuschließen und nun sozusagen in Pension ruhmlos, ja
sogar anrüchig, weil als Spitzel des venezianischen Senates,
ein Gnadenbrot zu essen. Wie Schnitzler im ersten Satze
sagt, Casanova habe sich auf die Heimreise begeben „gleich
einem Vogel, der aus luftigen Höhen zum Sterben
allmählich nach abwärts steigt“ und seine Vaterstadt „in
eng und immer enger werdenden Kreisen zu umziehen“
begonnen, so bewegt sich die Erzählung sel'st eng und
geschlossen um das Problem des letzten erotischen Er¬
lebnisses knapp vor der Endstation Venedig. Dem¬
entsprechend die Technik der Erzählung. Keine Exposition,
kein Zurückgreifen auf Casanovas Vergangenheit. Er trifft
in Mantua einen Bekannten, läßt sich von ihm auf ein
ländliches Schloß in der Umgebung zu Gast laden, findet
dort eine junge Dame, die auf den 53jährigen einen
berückenden Eindruck macht. An Marcolina aber scheinen
die noch immer wirksamen Künste des großen Zauberers
ohne Eindruck zu bleiben; ihre Kälte und Geistigkeit ist
ebenso groß wie ihre Schönheit; sie ist eine vollkommene
Gelehrte, geschätzt als Mathematikerin, ist eine wohlgeschulte
Philosophin, die in den Disputationen mit Casanova
Siegerin bleibt. Seine galanten Annäherungsversuche
erwecken ihren Widerstand; statt sie zu erobern, macht er
sie sich zur Feindin. In einer schlaflosen Nacht kommt er
durch Zufall hinter das Geheimnis der verschleierten und
scheinbar unergründlichen Seele Marcolinas: die für
unnahbar, kalt, tugendhaft, sittenstreng geltende Dame
gewährt einem jungen Offizier ihre Gunst. Casanova
gewahrt den gleich ihm zu Gast befindlichen Lorenzi aus
dem Schlafgemach Marcolinas enteilen. Der junge ver¬
wegene Mann hat an einen alten Marchese, dessen Gattin,
wie diesem bekannt ist, Lorenzis Geliebte ist, eine große
Summe Geldes im Spiele verloren; den Marchese erfüllt
eine wahre Gier nach Rache. Vermag Lorenzi die Summe
nicht zu bezahlen, so sind Ehre und Existenz zugrunde ge¬
richtet. Casanova springt ihm als Retter bei; er stellt ihm
das Geld zur Verfügung unter der Bedingung, ihn in
der kommenden Nacht in seinen Mantel gehüllt an seiner
Stelle zu Marcolina zu lassen. Lorenzi bleibt keine Wahl.
Den Verabredungen gemäß glückt das Abenteuer. Aber als
Marcolina im dämmernden Morgen den alternden Casa¬
nova erkannt, wandelt sich sein Triumph zur furchtbarsten
Erkenntnis seines Lebens um, bei ihr keine anderen
Empfindungen als die des Hasses und Ekels hervor¬
gerufen zu haben. Draußen im Park aber er¬
wartet ihn der uun doch mit dem Leben fertige
Lorenzi zum Zweikampf. Auch mit dem Degen in der
Hand bleibt der alte Casanova noch einmal Meister: der
Rivale fällt. Casanova flieht, zieht in Venedig ein; er ist
unentrinnbar dem Alter verfallen. Um das Leben zu
fristen, bleibt ihm nichts übrig, als sich sogar der Nieder¬
tracht zu ergeben.
— In einer chronistisch und artistisch
sehr glücklich der Gestalt Casanovas angepaßten Er¬
findung hat Artur Schnitzler das Erlebnis des Alterus
gestaltet. Die Novelle gehört durch die Kunst
des Erzählens wohl zu seinen allerbesten Arbeiten.
Es
gibt Partien von sprachlicher und stilistischer
Meisterschaft. Die Novelle steht ganz für sich
im Schaffen des Dichters, ist aber freilich durch gewisse
Motive und Vaterschaftszüge insbesondere das Erotische
ein echter Artur Schnitzler. Ein Mangel, oder sagen
wir eine Unausgeglichenheit, scheint mir die Charakteristik
Marcolinas; die Figur wird doch nicht recht begreiflich
und erhält im Gange der Erzählung kaum ein über¬
zeugendes Innenleben. Die Dichtung mutet wie ein
Novellistisches an, darf als lches freilich erst recht darauf
hinweisen, wie echt sie dem farbigen italienischen Stile der
erzischen Novelle nahe kommt.
R. Holzer.