I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 53

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„Der Weg ins Freie“. Roman von Artur Schnitzler.
[Verlag von S. Fischer, Berlin. Nie ist Echteres aus Wien und
über Wien geschrieben worden. Uisd selbst jene, die Wiens „Gesellschaft“
Aristokraten und Juden, Litetzaten, Politiker, Musiker und wieder
Juden und Aristokraten — niemals kennen gelernt haben, werden sich in
diesem neuen Werke Schnitzlers zurechtfinden können. Gegensätze platzen
auf Gegensätze: der musizierende Aristokrat, der trotz mancher Rasse¬
bedenken doch immer wieder an den intelligenten schriftstellernden Jnden
und den eleganten Salons jüdischer Finanziers Gefallen findet, dann der
Jude wieder, der hier vor dem Aristokraten brillieren will, der Zionist,
der enthusiastisch und ernst zugleich seine Idee versicht, während die eigene
Schwester Sozialistin schwersten Kalibers ist, der Journalist, der, vielleicht
zum großen Dichter geboren, der der Alltagssorgen halber der Poesie ent¬
fremdet wird, das hysterische Mädchen, das bei den „Jours“ seinen
Träumen nachjagt, der Börsianer, der Hofrat, der Reserveleutnant ...
Lauter Menschen, die den Weg ins Freie suchen und die in einer
Gesellschaft verkehren, in einer Gesellschaft sich austoben.
Farsse Recci
4. Wee 08
FFerner liegt ein neuer Roman von Axthur=Schnitzler.
vor. „Der Weg ins Freie".')[Wir finden hier alle
Vorzüge der Schnitzlerschen Kunst. Die feine Menschenbetrach¬
tung, die jedem Pathos abhold ist, schon weil sie sich keine
Illusionen macht. Der [leicht melancholische Ton der alles
umhaucht. Der geistreiche, aber nie geistreichelnde Dialog,
fast immer das interessanteste in seinen Büchern. Und dann
die diesem Dichter besonders eigentümliche Distanz, die er—
zu all seinen Personen und ihren Schiksalen einnimmt.] Man
kann nicht sagen, daß er als ein Ueberlegener eryaben über
ihnen steht. Er steht sozusagen ein wenig bei Seite. Und
daß er überhaupt bei diesen Menschen und ihren Erlebnissen
so lange Halt macht, dazu zwingt ihn sein Trieb, allem mög¬
lichst auf den Grund zu schauen. Fast mehr ein wissenschaft¬
liches Interesse, dem er dann eine sehr soignierte, künstlerische
Form verleiht. Und was findet er auf dem Grund? Mein
Gott, das bißchen Liebe, das bißchen Sorge und dann all die
unnützen Quälereien, ohne die, wie es scheint, die Menschen
nun einmal nicht leben können, bei denen aber so gar nichts
Positives herauskommt. Im Grund ist es überall und bei
allen dasselbe. Und schon deshalb ist alles gar nicht so schlimm,
aber auch nicht so einzigartig schön, wie jeder einzelne es von
seinem Leid, von seiner Liebe, von seinen Quälereien
glaubt. Und Schnitzler lächelt ein wenig müde, ein wenig me¬
lancholisch und geht einige Schritte weiter. Wieder macht er
Halt, forscht und findet gar bald dasselbe Ergebnis. Und der
Weg ins Freie? Mensch, werde Kapellmeister oder sonst etwas
Ordentliches und Tüchtiges. Zu mehr reicht es bei den meisten
unter uns ja doch nicht. Als einen ganz besonderen Komplex
von Quälereien hat sich Schnitzler diesmal die sogenannte
Judenfrage vorgenommen. Er traktiert sie ohne Pathos und
Leidenschaftlichkeit, wie das sonst geschieht, er exempflifiziert.
Er zeigt uns Juden von allen Gesinnungsvariationen. Der
eingefleischte Zionist und Rassenjude ist ebenso vertreten wie
der absolute Skeptiker und der eingefleischte Hasser des Zionis¬
mus. Schnitzler erareift nicht Partei, das tut er fast nie, son¬
dern er zeigt uns all diese Typen, läßt sie agieren, wie es für
ssein Kunstwerk taugt, macht viel kluge Bemerkungen über allf
das, was ihm an diesen Vertretern auffällt, und schüttelt dann
noch etwas wehmütiger den Kopf als gewöhnlich. Mensch,
werde Kapellmeister oder sonst was Tüchtiges! Alle Vorzüge
der Schnitzlerschen Kunst bergen aber eine Gefahr in sich, die
nicht bei den kleineren Arbeiten, wohl aber hier, in dem um¬
fangreichen Roman kund wird. In so einem lang ausgedehnten
Werk wi“ seine Art auf die Dauer doch etwas monoton und
ermüdeno. Man sehnt sich nach einem lauteren Wort, nach
einem kräftigeren Vorgang, weshalb jedem Leser die Partie,
wo Anna ihr Kind zur Welt bringt, wie eine Erlösung sein
dürfte, und nach einer wärmeren Aeußerung. Auch auf die
Gefahr hin, daß sie weniger gescheit sei als alles sonst in dem
Buch.
Telephon 12801.
6
Kin WEererN
O l. österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
W
Wien, I., Concordiaplatz 4.
4
Vertretungen
0 in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genf, Kopen¬
# hagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork,
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
(Quellenangabe ohne Gewäht.
Samchai amt Frankfürter Zoltune
5

7 1978
& vom:


Ferner liegt ein neuer Roman von Arthur Sch
vor: „Der Weg ins Freie“.) Wir fih
Vorzüge der Schnitzlerschen Kunst. Die feine Menschenbetrach¬
tung, die jedem Pathos abhold ist, schon weil sie sich keine
umhaucht. Der geistreiche, aber nie geistreichelnde Dialog,
fast immer das interessanteste in seinen Büchern. Und dann
die diesem Dichter besonders eigentümliche Distanz, die er
zu all seinen Personen und ihren Schiksalen einnimmt. Man
kann nicht sagen, daß er als ein Ueberlegener erhaben über
ihnen steht. Er steht sozusagen ein wenig bei Seite. Und
daß er überhaupt bei diesen Menschen und ihren Erlebnissen
so lange Halt macht, dazu zwingt ihn sein Trieb, allem mög¬
lichst auf den Grund zu schauen. Fast mehr ein wissenschaft¬
liches Interesse, dem er dann eine sehr soignierte, künstlerische
Form verleiht. Und was findet er auf dem Grund? Mein
Gott, das bißchen Liebe, das bißchen Sorge und dann all die
unnützen Quälereien, ohne die, wie es scheint, die Menschen
nun einmal nicht leben können bei denen aber so gar nichts
Positives herauskommt. Im Grund ist es überall und bei
allen dasselbe. Und schon deshalb ist alles gar nicht so schlimm,
aber auch nicht so einzigartig schön, wie jeder einzelne es von
seinem Leid, von seiner Liebe, von seinen Quälereien
glaubt. Und Schnitzler lächelt ein wenig müde, ein wenig me¬
lancholisch und geht einige Schritte weiter. Wieder macht er—
Halt, forscht und findet gar bald dasselbe Ergebnis. Und der
Weg ins Freie? Mensch, werde Kapellmeister oder sonst etwas
Ordentliches und Tüchtiges. Zu mehr reicht es bei den meisten
unter uns ja doch nicht. Als einen ganz besonderen Komplex
von Quälereien hat sich Schnitzler diesmal die sogenännte
Judenfrage vorgenommen. Er traktiert sie ohne Pathos und
Leidenschaftlichkeit, wie das sonst geschieht, er exempflifiziert.
Er zeigt uns Juden von allen Gesinnungsvariationen. Der
eingefleischte Zionist und Rassenjude ist ebenso vertreten wie

Rilcher, Verlin
der absolute Skeptiker und der eingefleischte Hasser des Zionis¬
mus. Schnitzler ergreift nicht Partei, das tut er fast nie, son¬
dern er zeigt uns all diese Typen, läßt sie agieren, wie es fürk
sein Kunstwerk taugt, macht viel kluge Bemerkungen über all
das, was ihm an diesen Vertretern auffällt, und schüttelt dann
noch etwas wehmütiger den Kopf als gewöhnlich. Mensch,
werde Kapellmeister oder sonst was Tüchtiges! Alle Vorzüge
der Schnitzlerschen Kunst bergen aber eine Gefahr in sich, die
nicht bei den kleineren Arbeiten, wohl aber hier, in dem um¬
fangreichen Roman kund wird. In so einem lang ausgedehnten
Werk wirkt seine Art auf die Dauer doch etwas monoton und
ermüdend. Man sehnt sich nach einem lauteren Wort, nach
einem kräftigeren Vorgang, weshalb jedem Leser die Partie,
wo Anna ihr Kind zur Welt bringt, wie eine Erlösung sein
dürfte, und nach einer wärmeren Aeußerung. Auch auf die
Gefahr hin, daß sie weniger gescheit sei als alles sonst in dem
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