I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 1

10. Leutnant Gustl
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A ee e
H.— IIr. Freie Litterarische Vereinigung. Die Freie Litterarische
Vereinigung veranstaltete am Freitag im Palast=Restaurant ihren ersten
Vortragsabend. Frau Elsbeth Meyer=Förster und nach ihr Arthur
Schnitzler vertraten die moderne Berlinische und Wienerische Litteratur
durch Vorlesung eigener Schopfungen. Frau Elsbeth Meyer=Förster, deren
jugendlich blühend schöne Erscheinung die Hörer sofort captivirte trug drei
kleine Erzählungen aus ihrem neuesten Werke „Also sprach eine Frau“
vor. Leider war sie durch eine leichte Indisposition behindert, so laut und
verständlich zu lesen, daß man ihr jederzeit auch in den entfernteren Winkeln
des Saales hätte folgen können. Die erste Erzählung mit ihrem mehr
sentimentalen, und die zweite mit ihrem mehr humoristischem Charakter
erfreuten sich lebhaften Beifalles. Weniger schien die dritte Erzählung,
Für
„Die Geschiedene", in ihrer großen psychologischen Oberflächlichkeit zu
wirken. Wenn diese geschiedene Frau, nachdem sie den siebenjährigen un¬
ausgesetzten Kampf ihrer Ehe endlich durch Scheidung beseitigt, schwäch¬
müthig ihren Gatten trotz der sicheren Aussicht auf endlose weitere ver¬
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zweifelte Kämpfe zurückruft, bloß weil sie an einem Sonntag Nachmittag¬
bei einem Spaziergang nach einem Berliner Ausflugsort in dem Kiefer=as
wald und nachher in einem Biergarten von einigen Männern behelligt,en
Abon
Abon und von einigen Damen über die Achsel angesehen wurde, so scheint dies eines
schwächliche Logik. Wenn sie den Kampf mit dem Manne dem Kampfel
mit der Welt vorzieht, so könnte man ihr z. B. bescheiden als anderense
Ausweg vorschlagen, nicht gerade am Sonntag Nachmittag, sondern amn¬
Inha
Montag Vormittag in minder auffallender Toilette spazieren zu geheng“)
blä
ien
wodu
wo man in Kiefernwäldern und Biergärten bei Berlin erheblich wenigegen
des
belästigt zu werden pflegt, auch als geschiedene Frau. Es war schade
werd
tor
daß sich Frau Elsbeth Meyer=Förster, vielleicht um den Titel ihres Buches
zu rechtfertigen, anscheinend als starkgeistige Frau zeigen wollte. Ihre
litterarische Kraft liegt mehr in der guten Beobachtung selbst als in den
Schlüssen, die sie daraus ziehen zu können meint. — Nach der schönen Frau
kam der schöne Mann, Dr. Schnitzler, der Typus des hübschen,
modernen Wieners mit dem ein wenig weichen, blassen, leicht müden Ge¬
sicht, und einer so breiten Locke über der Stirn, daß dagegen die berühmte
Barnaylocke nicht entfernt aufkommen kann. Schnitzler trug in vollendeter,
überaus charakteristischer Weise mit dem weichen, einschmeichelndem Wiener
Dialekt die noch ungedruckte Geschichte vom „Leutnant Gustl“ vor. Das
Ganze ist ein Gedankenmonolog, und es ist mit geradezu erstaunlicher
Feinheit der Veobachtung die seltsame Art wiedergegeben, wie bei dem
jungen Leutnant die Gedanken kreuz und quer hin und her schießen, bald
sich mit der Gegenwart, bald mit der Zukunft beschäftigen, dann wieder weit
in die Vergangenheit zurückgreifen und immer wieder auf dieselben Punkte
zurückkommen, die sein Hirn am meisten beschäftigen, bald auf die geliebte
Steffi, bald auf das Duell vom nächsten Tage und schließlich immer wieder
auf den Selbstmord, der er am nächsten Morgen unweigerlich verüben muß.
Denn ein robuster, ihm an Kraft zehnfach überlegener Bäckermeister, den
er selbst grundlos beleidigt, hat ihn im Gedränge einer Concertgarberobe
einen „dummen Bub“ geheißen und ihn mit seiner brutalen Kraft ver¬
hindert, ihn sofort niederzustoßen. Diesen Schimpf glaubt der junge
Leutnant auf Grund der separaten Offiziersehrbegriffe nicht anders wieder
gut machen zu können, als dadurch, daß er sich eine Kugel durch den Kopf
schießt. Wir begleiten den armen jungen Kerl, der ein Opfer perverser
Ehrbegriffe werden soll, auf seiner nächtlichen Wanderung durch den
Prater, wir gehen mit ihm zur Frühmesse, die er in einer seltsamen Ans
wandlung besucht, wir begleiken ihn schließlich in sein Kaffeehaus, in dem
er noch eine Stunde vor seinem Tode frühstücken will. Und hier geschieht
das Unerwartete. Von dem Kellner hört er, daß der robuste Bäckermeister
in der Nacht vom Schlage getroffen sei. Die Freude hierüber ist sicherlich
beim Leutnant Gustl größer, als bei den Verehrern Schnitzlers. Denn
man kann nicht leugnen, daß diese Lösung eines doch immerhin ernsthaft
behandelten Problems kindlich ist. In früherer Zeit hätte man dieses
Problem vielleicht noch einfacher dadurch gelöst, daß man im entscheidenden
Moment den Leutnant Gustl aus einem schweren Traume hätte erwachen
lassen. Die Lösung durch einen Schlaganfall ist zwar gleichfalls ver¬
blüffend einfach, aber eigentlich noch schlechter. Denn es ist nicht einmal
eine vollkommen äußere Lösung. Leutnant Gustl wollte sich ja nicht tödten
weil der Bäckermeister über die Beschimpfung hätte reden können, denn sein
Schweigen hätte sich möglicherweise erkaufen oder auf andere Weise er¬
zwingen lassen. Er wollte sich tödten, weil er es mit seiner Offiziersehre
für unvereinbar hielt, nach einem solchen Schimpf weiter zu leben. Dieser
Schimpf wird aber durch den Tod des Gegners nicht gelöscht. So klingt
das Ganze das als Komödie anfängt, und als Tragödie fortgeführt wird
als Burleske aus. Das hinderte natürlich nicht die Bewunderung, die wohl
jeder der großen Kunst zollte, die in den Einzelheiten der Erzählung zum
Ausdruck kommt. Der Beifall der Zuhörer war außerordentlich herzlich.
Man merkte es ihnen an, daß sie gern die Gelegenheit benützen, nicht nur
über den Genuß der letzten Stunde, sondern über Alles das dankend zu
quittiren, was Schnitzler ihnen schon an künstlerischen Gaben geboten.
Ausschnitt aus: — men
vom 00
B

Am ersten diesjährigen Vorlese=Abend der „Freien litera¬
rischen Vereinigung“ bestieg nach Frau Elsbeth Meyer¬
Förster (Berlin) Dr. Arthur Schnitzler aus Wien das Podium,
um eine Manuscript=Novelle „Lieutenant Gustl“ vorzulesen. Das
Drama einer leichtsinnigen Lieutenantsseele wird hier in Monolog¬
form aufgerollt. Gleich nach dem von wienerischem Humor um¬
schmeichelten Anfang wendet sich die Geschichte in's Tragische. Der
fesche Gustl wird irgendwo so arg und plötzlich beleidigt, daß er sich
— er muß sich erschießen.
nicht wehren kann. Seine Ehr' ist hin
Nach einer bösen Nacht im Prater kehrt er im Stamm=Kaffeehaus
ein, um sich zu seinem finsteren Vorhaben Muth zu essen. Dort
erfährt er vom Zahlkellner — Sie sehen, die Sache ist echt!
wienerisch — daß der Mann, der ihn, den Gustl, beleidigt hat,
plötzlich vom Schlag getrossen worden ist. Also darf Gustl lebena
bleiben. Die Naivetät dieser überraschenden Lösung contrastirt seltsam
mit den subtilen Feinheiten seelischer Schilderung, die Schnitzler in
die aphoristisch knappen Sätze seiner virtuos gemachten Novelle ver¬
flochten hat. Aber über jedes Bedenken half die fascinirende Per¬
sönlichkeit des Dichters, der lebensprühende, künstlerisch schmiegsamea
Vortrag hinweg. Der wiener Autor holte sich einen stürmischen
Erfolg, der für die hier „erst“ zweimal verschobene, nunmehr für
den 1. December angesetzte Geburts=Première von Schnitzler's!
neuem Schauspiel „Der Schleier der Beatrice“ Gutes bedeuten mögen
Dr. Erich Freund.
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* Arthur Schnitzler und Frau Elsbeth M
Die freie litterarische Vereinigung
in ihrem gestrigen Vereinsabend im „Palast=Re
liche Bekanntschaft mit zwei unserer modernen E
kannten Schriftstellerin Frau Elsbeth Meyer¬
dem uns Breslauern durch seine Bühnenwerke „Liebele
machtniß", „Der grüne Kakadu“, „Frage an das Schicks
kannte Wiener, Arthur Schnitzler. Frau El
Förster zählt zu den beliebtesten Frauen=Schriftstellerinn
wart. Auch uns Breslauern ist sie keine Fremde. Ei
Breslauer Kind, und hat bis zu ihrem 15. Jahre hier
haben Breslauer Zeitungen, auch die unsere, ihren N
druck von Romanen aus ihrer Feder populär gemacht
mann betitelte sich der vor einigen Monaten in
General=Anzeiger“ erschienene Roman, der viel Anerk
Ihre wunderbare Charakteristik, ihre einfache, freie und
Svrache, ihre starke Eigenart, gute Dinge unve
üllt und
zu sagen, sichern ihr einen hervorragenden
unter uns
dernen. Sie las einige kleine Novelletten a
, in Carl
#. Für
Verlag erschienenen und von der gesan
itik lebh
11
erkanntem Buch: „Also sprach eine

bewußt und stark der Titel klingt! So ganz nach Fr

und unwillkürlich stellt man sich die von den Mann

Species von Frauen vor, die mit fanatischem Groll gege
zu Felde ziehen, weil ihre eigene Reizlosigkeit sie aus den:
ihr
Abon umworbenen und umschmeichelten Schwestern verbannt. Wer aber
Abon gestern die reizende, von einer eleganten Variser Toilette gehobene
Erscheinung der jungen Frau gesehen, das geistreiche Gesichtchen, über!
das sich beim Lesen die langen dunklen Wimpern wie ein Schattenke
legten, wer hört, daß die Verfasserin des Buches, das in seinen Ein=ung
Inh zelheiten das Leven so klar, so wirksam drastisch schildert, und un= eb
barmberzig Schäden aufdeckt, wo es welche findet, eine glückliche Frau ung
und Mutter ist, der wird anderer Meinung über diese „Fra
des
rechtlerin“, die zwar eine solche ist, aber in des Wortes edelf
wer
deutung. Wir können das Lesen des Buches, von dem sie nu
Bruchstucke zum Besten gab, nur empfehlen. Leider beeint
eine Indisposition ihren Vortrag, so daß ihre Stimme nicht
in dem weiten Saale verstanden wurde. Herr Arthur G
ler=Wien, dessen neuestes Bühnenwerk „Der Schleier der B
gegenwärtig an unserem Theater einstudirt wird, löste sein
gängerin mit einer neuen Dichtung ab, die er im Manuskript
„Leutnant Gustl“ betitelt sie sich, ist nur ein Monolog un
so fesselnd, so voll Leben und von dramatischer Kraft durchdrung
I,
daß sich die Spannung bis zum letzten Augenblick erhält.
hübsches, weiches Organ, mit dem wienerischen Accent, tlingt durch
die lautlose Stille. Wie doch die Gestalten mit dem Dichter lebendig
werden, man zittert, bangt, hofft und verzweifelt mit dem armen
Leutnant Gustl, dem ein widriges Geschick die Waffe in die Hand
drückt, sein junges Leben jäh zu enden. Arthur Schnitzler ist 1862 in
Wien geboren, praktischer Arzt dortselbst, eine elegante Erscheinung.:
Seinem geistvollen Gesicht, mit dem modernen Spitzbart, fehlt nicht
die Dichterlocke, die über seiner breiten Stirn liegt. Jedenfalls waren
es zwei sehr interessante Bekanntschaften, die wir gestern durch die
M. L.
„Freie litterarische Vereinigung“ machten. —