II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 229

box 28/4
We
24. DasteLand
geschoben. Sie handeln nicht aus innerlicher
Ooer soll er so etwas wie eine Rechtsertigung
Notwendigkeit, sie bewegen sich vielmehr inso¬
für die äußerst gewagte Problemstellung sein?
weit der Problemsteller hinter den Kulissen es
„Das weite Land“ soll die menschliche Seele,
will und just nur dahin, wohin dieser sie haben
insbesondere wohl doch die Weiberseele, sein.
will, um das willkürlich ersonnene Problem
Das ist nun allerdings ein weites Land, ein sehr
Droben im Hochgebirge ver¬
zu lösen.
weites, ein unendliches sogar und ein labyrinthisch
liert sich das Triebleben Hofreiters an eines
verschlungenes obenein. Ein widerstandslos
modernsten Mädchen, die vorzeitig
jener
seinem Empfindungsleben hingegebener russischer
Er¬
von allen schlechten Früchten des
Musiker Korssakoff hat die Gemahlin des Fabri¬
kenninisbaumes genossen und darüber verderbt
kanten Hofreiter, Genia, hoffnungslos geliebt
worden bis auf das letzte Blutkügelchen. Als
und ist deshalb ans dem Leben geschieden. Der
Gegenstück hierzu spinnt sich ein Liebeshandel
weichherzige Künstler ist der echt weiblichen, edel¬
gemütvollerer Natur zwischen dem Sohne der
denkenden Frau nicht gleichgültig geblieben;
geschiedenen Schauspielerin, dem Marinefähnrich.
aber sie ist in dem Seelenkonflikt Siegerin
Otto Aigner, und der Gemahlin Hofreiters an.
geblieben. Der tragische Ausgang hat ihr
Der von seinem Gebirgsausfluge zurückkehrende
Innerstes erschütiert und ihre Seele dem Gatten
Hausherr hat gerade noch Gelegenheit, zu sehen,
entfremdet. Freilich hatte die Ehe schon ohne¬
wie der Liebhaber seiner Frau nachts aus dem
hin einen klaffenden Riß erhalten. Mit diesem
Fenster steigt. Hofreiter handelt indessen nicht
Zwiespalt der Gatten setzt das Stück ein. Gleich
nach der Vorschrift des jüngeren Alexander
die erste Szene, unmittelbar nach der Veerdi¬
Dumas „tue-1a“ Ganz und gar nicht. Er
gung des russischen Musikers, führt uns mitten
überschläft vielmehr in des Wortes eigent¬
hinein in die Stimmung der beiden Eheleute.
lichster Bedeutung die Geschichte, und als
Der Gatte zweifelt leise an der Treue seiner
am anderen Morgen die ganze Gesellschaft
Frau, die ihm versichert, Korssakoffs Geliebte
in seinem Landhause versammelt ist, schleudert
nicht gewesen zu sein; „leider“ nicht, wie sie
er dem jungen Manne eine brutale Beleidigung
hinzufügt. Nun ist der Stein ins Rollen ge¬
ins Antlitz. Eine Herausforderung ist unaus¬
bracht. Mit Spannung erwartet man die Ent¬
bleiblich. Der Fähnrich wird niedergeknallt.
wicklung aus dieser Problemsstellung; sie er¬
Genia verläßt ihren Gemahl, der wenigstens
scheint allerdings von Haus aus mehr novellistisch
den guten Geschmack behält, jenes verwahrloste
als im eigentlichen Sinne dramatisch. Paul
Geschöpf, das sich ihm an den Hals wirft, von
Heyse könnte das Problem aufgestellt haben.
sich abzuschütteln. In diesem Augenblick taucht
In Hofreiters Seele ist der Stachel tief stecken
der dreizehnjährige Sohn der Hofreiterschen
geblieben. Die Frau, die er trotz aller
Eheleute plötzlich auf und ruft überselig, aus
seiner Herumliebeleien mit einem gewissen
seiner Pension ins Elternhaus zu den Ferien
Leidenschaftlichkeit liebt, hat einem andern in
zurückgekehrt, die Worte „Vater“ — „Mutter!“
ihrem Gemüte angehört, das nagt an ihm.
Wer hat nun diese szenische Schachpartie ge¬
Der Schatten Korssakoffs steht zwischen ihm und
wonnen? Denn es handelt sich tatsächlich nur
seiner Frau, die ihm die eheliche Treue gewahrt
um eine solche. Wir sind unseres bescheidenen!
hat. Die Atmosphäre in dem Landhause Hof¬
Teiles der Ansicht, daß sie mit einem „Remis“
reiters wird unerträglich schwül; er entflieht
geendet. Unverkennbar sind einzelne Wendungen
ihr und er begibt sich ins Hochgebirge, um zu
in dem Spiele von einer verblüssenden
vergessen. Dort findet er einen älteren Freund,
sich ihrer nur
Geistreichigkeit, wie man
einen rücksichtslosen Frauenereberer, den Doktor
von einem so gewandten Schachspieler wie
Aigner. Dieser steht nun in dem entgegen¬
Arthur Schnitzler versehen konnte. Dahin
geietzten Falle zu Hofreiter. Er hat seiner
gehört die außerordentlich seine Szene
ebenfalls von ihm heißgeliebten Frau die ehe¬
zwischen den beiden Frauen Anna Meinhold¬
liche Treue wirklich gebrochen und diese
Aigner und Genia im zweiten Akte. Aber es
hat das eheliche Band gelöst. Sie hat sich
muß trotzdem gesagt werden, daß all die vielen
dem Künstlerberuse hingegeben, eine geachtete
Blender und Blitzer nur dazu beitrugen, das
Stellung als Schauspielerin errungen und ihren
eigentlich Undramatische des Ganzen um so
Sohn Otto zu einem tüchtigen Menschen er¬
schonungsloser zu enthüllen. Die Schilderung
zogen. Diese beiden Personengruppen werden
vom Dichter wie Schachfiauren gegeneinander! der Wiener Gesellschaftszustände ist mit unüber=1

trefflicher Meisterschaft durchgeführt, und wenn
Herr Schnitzler mit seiner Tragikomödie be¬
namsten Dichtung eine Satire im Stile
Juvenals hat schreiben wollen, so wäre
ihm dieser Vorsatz besser gelungen, wenn
er auf die szenische Form hätte Verzicht leisten
wollen oder Verzicht leisten können. Das ewige
blasierte geistreichelnde Plaudern und philoso¬
phelnde Pessimisteln, das unaufhörliche Kokettieren!
mit der Salomonischen Weisheit, daß alles eitel
sei, ermüdete auf die Dauer sogar die dem
Dichter vielfach seelisch verwandte Zuschauer¬
schar des Lessingtheaters. Die Darstellung,
die besonders in der Wiedergabe der vielen
nebenfigürlichen Elemente hervorragte, vermochte
über die dramatische Schwächlichket des Werkes
J. K.
nicht hinwegzutänschen.
Berlin, 16. Oktober 1911.