II, Theaterstücke 24, Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, Seite 488

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24. Das weiteLand
Zeitung: Braunschweig. Neueste Nachr.
Datum:
7. Nov. 1911
auf dem ausgezeichneten Spiele und der tüchtigen Regie basierte.
Herzogliches Haftheater.
Die Inszenierung war namentlich im dritten Akte besonders ge¬
Zum ersten Male:
lungen. In dem sashionablen Hotelvestibül fehlte sogar der Lift
mit seinem Liftboy nicht. Die Villa Hofreiter in Baden bei Wien
Das weite Land.
hätte Herr Oberregisseur Dr. Waag weniger ruinenhaft aufbauen
Tragikomödie in 5 Akten von Arthur Schnitzler.
lassen sollen. Die Gartenszenerie war entzückend. Der Friedrich
Hofreiter war eine Musterleistung des Herrn Marlow. Er
Braunschweig, 5. November 1911.
wußte den psychologischen Feinheiten der Dichtung Plastik zu
Mit dankenswerter Promptheit macht uns die Hofbühne mit
verleihen und die Ideenführung klar zum Ausdruck zu bringen.
dem neuen Schnitzlerschen Werke bekannt, das erst vor einigen
Den Skeptiker wie den seriösen Idealisten, den rücksichtslosen und
Wochen seine Uraufführung erlebte. Wenn auch der weitaus
doch im Grunde weichen Menschen vereinte er zu sprechendem
größte Teil des Publikums den Dramen des Dichters ziemlich
Bilde, durch das der traurige Held aus den rätselhaften Gefilden
kühl und oftmals verständlos gegenübersteht, so ist der Wiener Arzt
des „weiten Landes“ den Zuschauern menschlich näher gebracht
doch eine derart markante Persönlichkeit unter den jüngeren öster¬
wurde. — Lotte Horst sekundierte ihm als schwergeprüfte Gattin
reichischen Dramatikern. daß man an seinen Werken nicht achtlos
vollgültig. Sie hatte die zwischen Entsagung und Revanchegelüsten
vorübergehen kann. Schnitzler ist mehr Analytiker und Stimmungs¬
schwankende Frau auf einen wehmütig klingenden Ton gestimmt.
poet, als kraftvoller Dramatiker. Ihm mangelt vor allem der
Die seelischen Qualen brachte sie in unaufdringlicher sprechender
große kühne Zug; es ist bei ihm alles novellistisch. Nicht die
Weise zum Ausdruck. —
Eine vorzügliche Leistung bot Herr
Fabel steht bei ihm obenan, sondern ihm kommt es darauf an, in
Kunath mit seinem Dr. Franz Maurer. Es war eine mann¬
seinen Dramen den Kontakt zwischen den einzelnen Personen zu
hafte, sicher hingestellte Persönlichkeit. Ein echter Freund, diskret
finden und festzuhalten. Daraus ergibt sich eine innerlich belebte
und treuherzig. — Der Marinefähnrich Otto v. Aigner des Herrn
Dialogführung voller tiefer Lebensweisheit, psychologische Ausein¬
Schneeweiß wies im großen und ganzen alles das auf, was
andersetzungen, aber keine packende, erschütternde, blutvolle Dra¬
zur trefflichen Charakterisierung dieser jungen frischen Gestalt
matik. Hofmannstal hat in dem Vorworte zu Schnitzlers.
nötig war. Die Erna Wahl des Frl. de Bruyn war kein Zier¬
„Anatol“ seines Freundes Art mit den Worten charakterisiert:
püvochen, sondern ein frisches, lebenslustiges junges Mädchen, ohne
Also spielen wir Theater,
Lebenserfahrung, nur dem erwachenden Drange nach dem Manne
Spielen unsere eigenen Stücke,
seiner Liebe folgend. Die übrigen zahlreichen Rollen waren
Früh gereift und zart und traurig.
Chargerollen, die sämtlich gute Besetzungen gefunden hatten und
Die Komödie unserer Seele.
nicht unwesentlich zur glänzenden Vollendung des Gesamtbildes
Zart und traurig, das ist der Grundton der Schnitzlerschen Dichtun¬
beitrugen. Frl. Scarla gab die Mutter des Marinefähnrichs
gen und zugleich auch die Trennungslinie zwischen dem modernen
Otto von Aigner, Herr Munkwitz verkörperte treffend den
Vertreter des Wiener Naturalismus und dem großen nordischen
Soteldirektor Dr. v. Aigner, Frl. Kannée die redelustige Frau
Wahrheitssucher Ibsen. Auch oieser suchte in die schwankende
„Lahl. Herr Paris den Gustav Wahl, Herr Schlaezer den
Zwielichtdämmerung des „weiten Landes“ der Seele forschend ein¬
Zyniker Bankier Natter. Frl. Byrans die Frau Adele Natter.
zudringen, aber die Gestalten, die er erstehen ließ, haben bei all
den Tennisfer Kreindl Herr Lanius den nervösen Schriftsteller
ihrer Ankränkelung noch Saft und Kraft, die Personen Schnitzler¬
Rhon Herr Mesmer in einer charakteristischen Maske, den pol¬
scher Gestaltungskraft sind jedoch unzweideutige Dekadenz=Erschei¬
ternden Hotelgast Serknitz Herr Preuß, den Doktor Meyer Herr
nungen voll resigniertem weichherzigen Gebaren. Den Typ dieser
Oppermann und den Portier im Hotel am Völser Weiher
Herr Heinemann.
Dekadentenart gibt uns der Dichter in dem Fabrikanten Hofreiter
H. Gr.
in seinem neuesten Werke „Das weite Land“
Der Direktor eines hochseinen Alvenhotels, Herr v. Aigler,
sagt zu dem Fabrikanten Hofreiter: „Sollte es Ihnen noch nicht
aufgefallen sein, was für komplizierte Subjekte wir Menschen im
Grunde sind? So vieles hat zugleich Raum in uns! Liebe und
Trug .. . . Treue und Treulosigteit.. Anbetung für die Eine
und Verlangen nach einer Andern oder nach Mehreren. Wir ver¬
suchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese
Ordnung ist doch nur etwas Künstliches ... Das Natürliche —
ist das Chaos. Ja, die Seele ist ein weites Land.
Dies
weite Land“ oder vielmehr das Chaos in der Seele des Fabri¬
kanten Fritz Hofreiter, in dem die Urkräfte primitiver Leidenschaft
umgebrochen walten, das will uns der Dichter zeigen. Hofreiter ist
eine Genießernatur auf dem Gebiete der Erotik. Er ist von Ge¬
wissensbissen nicht angekränkelt und betrügt seine ihn vergötternde
Frau offen und ohne jede Heimlichkeit. Ja, um nicht allein im
Hause der Schuldige zu sein, treibt er seine Frau sostematisch in den
Ehebruch, und als diese sich einem blutjungen Fähnrich an den
Hals geworfen hatte, da knallt er diesen im Duell nieder. Nicht
etwa aus Eifersucht, nein aus rein konventionellen Gründen
fordert er den Liebhaber seiner Frau — „man will doch nicht der
Hopf sein“. Als er seinem Gegner auf dem Duellplatze gegen¬
übersteht und den „frechen jungen Blick“ sieht, da wußte er, „er
oder ich“. Da wird ihm zum Bewußtsein, daß seine Jugend vor¬
über und er, der Sieggewohnte, bald als Besieater von dem Schau¬
platz seiner Erfolge zurücktreten muß. Noch nimmt er es mit der
Jugend auf dem Tennisplatze, im Vergsteigen und in der Liebe
auf, aber auf das Heut folgt ein Morgen. Aus dem Duell geht er
siegreich hervor. Sein Gegner muß seinen „jungen frechen Blick“
mit dem Tode büßen, aber der Schatten des Toten folgt dem Sie¬
ger. Der Uebermensch wird moralisch. Als Erna, ein frühreifes
junges Mädchen, seine letzte Eroberung, sich anbietet, mit ihm ge¬
meinsam den Lebensweg zu gehen, weist er sie brüsk zurück: „Täu¬
schung. Alles Tävschung. Nächstens schnapp' ich doch zusammen.
Aus. Erna: auch zwischen uns. Du bist zwanzig: Du gehörst nicht
zu mir.“ Der Charakter des Hofreiters ist unleugbar ein zwie¬
spaltiger. Dadurch, daß der Held seine Ueberlegenheit im Stücke
nur durch seine Siege im Tennissviel beweist, bekommi er einen
komisch ironischen Zug. Die übrigen Personen des Stückes, die Gat¬
tin
Hofreiterg,
der Arzt Maurer, Erna usw., stehen
sämtlich im Schatten der Hauptfigur.
Ein Zugstück wird der
neue Schnitzler nicht werden. Aber für Feinschmecker der Technik
wird er einen Genuß bilden. Es ist zu wenig Handlung in ihm.
Die ersten drei Akte sind voll epischer Breite. Erst in den beiden
letzten kommt es zu krassen Effekten, die aber nicht mehr eine
ganze Wirkung zu erzielen vermögen. Der Erfolg der Premiere
am gestrigen Abend war ein Achtungserfolo, der zum größten Teil
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