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19. Der Ruf des Lebens
2. 1000
il= Wort gegeben, daß keiner von ihnen zurückkehren
solle. Der Oberst hat den Kaiser um die Gnade ge¬
n,
beten, in der ersten Schlacht einen Auftrag zu er¬
halten, der diesen Schwur als keine Farse erscheinen
lassen wird. Vor Marie versinkt alles, und in der
Verzweiflung über das Umsonst ihrer Wünsche, ihrer
Sehnsucht, im Zorn über die Feigheit, die sie vor
ihren Trieben zurückschreckte, weist sie den Forst¬
adjunkt, der nun als ehrlicher Freier naht, zurück.
Aber noch leuchtet ihr ein blutroter Stern des Le¬
bens: sie erfährt, daß die Schwadron, der der Ge¬
liebte ihrer Gedanken angehört, erst am nächsten
Morgen in der Frühe ausrücken wird. Ihr Entschluß
ist gefaßt. Mit den Schlaftropfen, die ihr der Arzt
gereicht, vergiftet sie den Vater, schafft sich freie Bahn
und stürzt fort — zu ihm!
Und nun zieht in einer Nacht, in wenige
Stunden zusammengestampft, das Leben mit seinem
Jubel und seiner Niedrigkeit an ihrem Auge vor¬
über. Sie kommt in die Kaserne, sie schleicht sich
in das Zimmer des jungen Offiziers. Hinter dem
Vorhang des Alkovens muß sie sehen, wie die Frau
des Obersten, die seine Geliebte war, ihn besturmt
zu bleiben, nicht in den Tod zu ziehen, ihr zu ge¬
hören, wie der Oberst dazu kommt und die Treulose
erschießt, indem er dem Räuber seiner Ehre es
überläßt, das Urteil an sich selbst zu vollstrecken.
Da taucht sie hervor aus dem Versteck, in die Arme
des Geliebten, ihm zu gehören, auf wenige Stunden,
Theater und Literatur.
bis er sich im Morgengrauen eine Kugel vor die
Stirn schießt.
V
„Der Ruf des Lebens“.
Die beiden Akte in denen sich diese atemlose
Schauspiel in drei Akten von Arthur Schnitzler.
Handlung abspielt, gehören zum dramatisch Stärk¬
Berlin, 2=Febiir.
sten was Schnitzler jemals geschrieben hat. Gewiß,
es sind vielfach bekannte Klänge die ertönen. Der
Soeben habe ich den neuen Schnitzler, der nun
Arzt, der als ein feiner Raisonneur eingeführt
morgen im Lessing=Theater zum ersten Mal aufge¬
ist — solch einen gab es ia auch im „Zwischenspiel“
führt werden soll, gelesen — und da ich das Buch*)
- kommt aus dem „Einsamen Weg“ herüber und
aus der Hand lege, umfängt mich die nachdenkliche,
der zweite Aufzug bringt etwas wie die „Liebelei",
traurige und doch leise bestärkende Seufzerstimmung,
von der anderen Seite her gesehen. Aber es blüht
in die mich die Werke dieses lieben Dichters von jeher
doch ein neues Gruppenspiel auf, von wundersam
einwiegen. Aus unbekannten Regionen naht etwas
geschlossener und gedrungener Kraft, das auch auf
und trägt mich fort von dem Erdenfleck, auf dem ich
der Bühne nicht unwirksam bleiben kann.
eben saß, das gedruckte Buch vor mir, trägt mich
Weniger gelungen erscheint mir der dritte
empor auf einen stillen Hügel hoch über diesem Pla¬
Akt, in dem der wehmutsvolle Ausklang folgt. Er
neten. Und ich blicke hinunter und sehe die Menschen
spielt draußen auf dem Lande bei der Tante, der die
an einander vorübereilen, einsam, scheu, mißtrauisch,
schöne Tochter als zügellose Sucherin des Lebens
voll heimlicher Eigenwünsche, voll verhaltener Gluten
davongegangen ist. Sie kehrt zu in fieberhafter
und schlummernder Leidenschaften. Und plötzlich er¬
Ekstase, eine Verzehrte und Stervende. Still steht
tönt eine laute Fanfare in das Gewimmel der Adams¬
Marie neben ihr, der der treue Arzt Leben und
kinder unter mir. Ein Engel mag sie geblasen haben,
Freiheit geschenkt, da er die Spuren ihres Vater¬
ober ein Teufel, und über die Häupter der wirren
mordes verwischte. Sie hat ihre glühenden Wünsche
Gesellen rauscht wie mit Sturmesbrausen der „Ruf
erfüllt, zur Erfüllung gezwungen, in einer Nacht
des Lebens“ Da kommt ein Tumult in die Mensch¬
voll von schrecklichen Dingen, von Mord und Liebe.
lein, und sie stürmen vor in wüster Hast, jagen sich
Nun ist sie wieder wie einst. Alles ist wie ausge¬
den Rang ab, drängen und stoßen einander und laufen
löscht. Alle Schrecknisse schwinden. Ruhig beichtet sie
im Sturm zu dem Strauch, da die Rosen blühen, sich
dem Adjunkten, der ergriffen von ihr Abschied nimmt
eine nur zu pflücken. Alle Wildheit, die in ihnen schlief,
— vielleicht um sie noch einmal wiederzusehen! —
ist erwacht, das Blut kocht und es gibt ein Betrügen
Wundersam—! Ungeheures hat sich ereignet, aber
und Belügen, ein Morden und Sichgatten, ein Tau¬
was bleibt übrig? Daß die einen tot sind, und die
meln im Sinnenrausch und ein Versinken in der Un¬
anderen leben, noch leben! Und noch Rechte haben!
bändigkeit.
Das ist hin, und das ist noch da. — „Ich weiß nichts
Ich aber auf meinem Hügel oben, ich sehe das
anderes auf Erden, das gewiß wäre“, so spricht der
alles und sehe es wieder nicht. Alles bewegt sich vor
Arzt zum Schluß. Und die Kinder, die auf der
meinen leibhaftigen Augen, aber es erscheint mir
Wiese dicht dabei gespielt, „lachen, laufen und ver¬
doch wieder so unwirklich, nur wie ein Symbol, wie
ein Gleichnis nur. Da steht der Dichter neben mir
schwinden im Wald.
Alles moralische Einschachteln von Gutem und
und sieht mich mit ernstem Blick an ...
Und nun will ich kurz erzählen, was sich da
Sündhaftem versinkt vor dieser primitiven und doch
unten begab. Denn ich soll ja einen Bericht schreiben.
hohen Weisheit. Leben! Leben! Alles andere ver¬
Also. Es war einmal ein junges Ding, von
schwindet dahinter. Alles ist zu überwinden. Der
schönem Wuchs und mit runden Armen und wogendem
Mann ist sentimental; er sinkt in tausend Befangen¬
Busen. Die hieß Marie Moser und lebte allein mit
heiten; Kastengeist, Ehrbegriff, Pflichtgefühl, Auf¬
ihrem kranken Vater, einem bösen, argwöhnischen
opferungslust. Das Weib als das Urtümlichere,
Menschen, der sie bis aufs Blut peinigte. Das Leben
Naivere hängt mit dumpfem Empfinden, halb un¬
hatte sie wohl einmal geprüft und noch ein ander
bewußt, die Augen verlangend in unbestimmte
Mal. Einmal, als sie bei der Tante und der schönen
Fernen gerichtet, am Dasein und seinen goldenen
Cousine draußen auf dem Lande war und der junge
Früchten.
Forstadjunkt die Cousine um ihretwillen verließ, um
Schnitzler hat die Einheit des Ganzen ein
ihr in stiller, inniger Liebe sich zu nähern. Aber stärker
wenig gefährdet, indem er im letzten Akt, der in einer
das andere Mal, als sie mit einem jungen Offizier
neuen szenischen Umgebung spielt, auch eine neue
tanzend die Nacht durchschwebte. Seit jener Stunde,
Tragödie einführt: in der entschwundenen und ster¬
da die Gier nach dem Leben in ihr erwachte und sie
bend zurückkehrenden Base Katharina. Freilich, er
nicht wieder losließ, da alle Sinne nach dem Manne
schrien, der sie durstig an seine junge Brust gepreßt, brauchte diese dramatische Aufstachelung des In¬
kannte sie nichts als den einen Gedanken: ihm ge= teresses, weil sonst alles in nachdenksamer Betrach¬
peitertung verglimmen würde. Der Schluß wird darum
H
19. Der Ruf des Lebens
2. 1000
il= Wort gegeben, daß keiner von ihnen zurückkehren
solle. Der Oberst hat den Kaiser um die Gnade ge¬
n,
beten, in der ersten Schlacht einen Auftrag zu er¬
halten, der diesen Schwur als keine Farse erscheinen
lassen wird. Vor Marie versinkt alles, und in der
Verzweiflung über das Umsonst ihrer Wünsche, ihrer
Sehnsucht, im Zorn über die Feigheit, die sie vor
ihren Trieben zurückschreckte, weist sie den Forst¬
adjunkt, der nun als ehrlicher Freier naht, zurück.
Aber noch leuchtet ihr ein blutroter Stern des Le¬
bens: sie erfährt, daß die Schwadron, der der Ge¬
liebte ihrer Gedanken angehört, erst am nächsten
Morgen in der Frühe ausrücken wird. Ihr Entschluß
ist gefaßt. Mit den Schlaftropfen, die ihr der Arzt
gereicht, vergiftet sie den Vater, schafft sich freie Bahn
und stürzt fort — zu ihm!
Und nun zieht in einer Nacht, in wenige
Stunden zusammengestampft, das Leben mit seinem
Jubel und seiner Niedrigkeit an ihrem Auge vor¬
über. Sie kommt in die Kaserne, sie schleicht sich
in das Zimmer des jungen Offiziers. Hinter dem
Vorhang des Alkovens muß sie sehen, wie die Frau
des Obersten, die seine Geliebte war, ihn besturmt
zu bleiben, nicht in den Tod zu ziehen, ihr zu ge¬
hören, wie der Oberst dazu kommt und die Treulose
erschießt, indem er dem Räuber seiner Ehre es
überläßt, das Urteil an sich selbst zu vollstrecken.
Da taucht sie hervor aus dem Versteck, in die Arme
des Geliebten, ihm zu gehören, auf wenige Stunden,
Theater und Literatur.
bis er sich im Morgengrauen eine Kugel vor die
Stirn schießt.
V
„Der Ruf des Lebens“.
Die beiden Akte in denen sich diese atemlose
Schauspiel in drei Akten von Arthur Schnitzler.
Handlung abspielt, gehören zum dramatisch Stärk¬
Berlin, 2=Febiir.
sten was Schnitzler jemals geschrieben hat. Gewiß,
es sind vielfach bekannte Klänge die ertönen. Der
Soeben habe ich den neuen Schnitzler, der nun
Arzt, der als ein feiner Raisonneur eingeführt
morgen im Lessing=Theater zum ersten Mal aufge¬
ist — solch einen gab es ia auch im „Zwischenspiel“
führt werden soll, gelesen — und da ich das Buch*)
- kommt aus dem „Einsamen Weg“ herüber und
aus der Hand lege, umfängt mich die nachdenkliche,
der zweite Aufzug bringt etwas wie die „Liebelei",
traurige und doch leise bestärkende Seufzerstimmung,
von der anderen Seite her gesehen. Aber es blüht
in die mich die Werke dieses lieben Dichters von jeher
doch ein neues Gruppenspiel auf, von wundersam
einwiegen. Aus unbekannten Regionen naht etwas
geschlossener und gedrungener Kraft, das auch auf
und trägt mich fort von dem Erdenfleck, auf dem ich
der Bühne nicht unwirksam bleiben kann.
eben saß, das gedruckte Buch vor mir, trägt mich
Weniger gelungen erscheint mir der dritte
empor auf einen stillen Hügel hoch über diesem Pla¬
Akt, in dem der wehmutsvolle Ausklang folgt. Er
neten. Und ich blicke hinunter und sehe die Menschen
spielt draußen auf dem Lande bei der Tante, der die
an einander vorübereilen, einsam, scheu, mißtrauisch,
schöne Tochter als zügellose Sucherin des Lebens
voll heimlicher Eigenwünsche, voll verhaltener Gluten
davongegangen ist. Sie kehrt zu in fieberhafter
und schlummernder Leidenschaften. Und plötzlich er¬
Ekstase, eine Verzehrte und Stervende. Still steht
tönt eine laute Fanfare in das Gewimmel der Adams¬
Marie neben ihr, der der treue Arzt Leben und
kinder unter mir. Ein Engel mag sie geblasen haben,
Freiheit geschenkt, da er die Spuren ihres Vater¬
ober ein Teufel, und über die Häupter der wirren
mordes verwischte. Sie hat ihre glühenden Wünsche
Gesellen rauscht wie mit Sturmesbrausen der „Ruf
erfüllt, zur Erfüllung gezwungen, in einer Nacht
des Lebens“ Da kommt ein Tumult in die Mensch¬
voll von schrecklichen Dingen, von Mord und Liebe.
lein, und sie stürmen vor in wüster Hast, jagen sich
Nun ist sie wieder wie einst. Alles ist wie ausge¬
den Rang ab, drängen und stoßen einander und laufen
löscht. Alle Schrecknisse schwinden. Ruhig beichtet sie
im Sturm zu dem Strauch, da die Rosen blühen, sich
dem Adjunkten, der ergriffen von ihr Abschied nimmt
eine nur zu pflücken. Alle Wildheit, die in ihnen schlief,
— vielleicht um sie noch einmal wiederzusehen! —
ist erwacht, das Blut kocht und es gibt ein Betrügen
Wundersam—! Ungeheures hat sich ereignet, aber
und Belügen, ein Morden und Sichgatten, ein Tau¬
was bleibt übrig? Daß die einen tot sind, und die
meln im Sinnenrausch und ein Versinken in der Un¬
anderen leben, noch leben! Und noch Rechte haben!
bändigkeit.
Das ist hin, und das ist noch da. — „Ich weiß nichts
Ich aber auf meinem Hügel oben, ich sehe das
anderes auf Erden, das gewiß wäre“, so spricht der
alles und sehe es wieder nicht. Alles bewegt sich vor
Arzt zum Schluß. Und die Kinder, die auf der
meinen leibhaftigen Augen, aber es erscheint mir
Wiese dicht dabei gespielt, „lachen, laufen und ver¬
doch wieder so unwirklich, nur wie ein Symbol, wie
ein Gleichnis nur. Da steht der Dichter neben mir
schwinden im Wald.
Alles moralische Einschachteln von Gutem und
und sieht mich mit ernstem Blick an ...
Und nun will ich kurz erzählen, was sich da
Sündhaftem versinkt vor dieser primitiven und doch
unten begab. Denn ich soll ja einen Bericht schreiben.
hohen Weisheit. Leben! Leben! Alles andere ver¬
Also. Es war einmal ein junges Ding, von
schwindet dahinter. Alles ist zu überwinden. Der
schönem Wuchs und mit runden Armen und wogendem
Mann ist sentimental; er sinkt in tausend Befangen¬
Busen. Die hieß Marie Moser und lebte allein mit
heiten; Kastengeist, Ehrbegriff, Pflichtgefühl, Auf¬
ihrem kranken Vater, einem bösen, argwöhnischen
opferungslust. Das Weib als das Urtümlichere,
Menschen, der sie bis aufs Blut peinigte. Das Leben
Naivere hängt mit dumpfem Empfinden, halb un¬
hatte sie wohl einmal geprüft und noch ein ander
bewußt, die Augen verlangend in unbestimmte
Mal. Einmal, als sie bei der Tante und der schönen
Fernen gerichtet, am Dasein und seinen goldenen
Cousine draußen auf dem Lande war und der junge
Früchten.
Forstadjunkt die Cousine um ihretwillen verließ, um
Schnitzler hat die Einheit des Ganzen ein
ihr in stiller, inniger Liebe sich zu nähern. Aber stärker
wenig gefährdet, indem er im letzten Akt, der in einer
das andere Mal, als sie mit einem jungen Offizier
neuen szenischen Umgebung spielt, auch eine neue
tanzend die Nacht durchschwebte. Seit jener Stunde,
Tragödie einführt: in der entschwundenen und ster¬
da die Gier nach dem Leben in ihr erwachte und sie
bend zurückkehrenden Base Katharina. Freilich, er
nicht wieder losließ, da alle Sinne nach dem Manne
schrien, der sie durstig an seine junge Brust gepreßt, brauchte diese dramatische Aufstachelung des In¬
kannte sie nichts als den einen Gedanken: ihm ge= teresses, weil sonst alles in nachdenksamer Betrach¬
peitertung verglimmen würde. Der Schluß wird darum
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