II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 13

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19. Der Ruf des Lebens
Theater, Musik und Literatur.
H. L. Lessingtheater. „Der Ruf des Lebens“
Schauspiel in drei Akten von Arthur Schnitzler. — Der
erste Akt mit seiner breit und kräftig angelegten Exposition,
die schon in ihrer eigenen Katastrophe gipfelt, fesselte das
Publikum und veransaßte es, den Dichter zu rufen, der auch
erschien. Der zweite Akt gefiel den Zuschauern, so lange er
den Fortgang der Handlung vorbereitete, irritierte ihre
Nerven in seiner totbringenden Zuspitzung und verwirrte
sie am Schlusse. Hier wurde schon Widerspruch laut, als
jene, die an Schnitzler glauben und ihm folgten, den Dichter
riefen. Der dritte Akt aber, in dem sich Schnitzler über sein!
Thema zu erheben versucht und aus der Kompliziertheit des
Lebens und seiner eigenen Konstruktion zur erhabensten
Primitivität des Abgeklärtseins strebt, versagte völlig in
seieer theatralischer Bewegung und sinnfälliger Entwickelung
abgekehrtem Pathos der Verknüpfung und Entwirrung aller
Deutungen des Lebens. Einige zischten, wenige applaudier¬
es wäre
ten, viele schwiegen. Es war ein Mißerfolg —
nutzlos, das zu leugnen. Und doch ist ## vielleicht das
feinste, sicher aber das reifste, reichste und vo lwertigste Werk
des Dichters. Ein Werk der Selbstbefreiung, in dem er sich,
wie mir scheint, für immer mit einem Thema abgefunden
hat, das ihn seit seiner ersten größeren Novelle nicht mehr
verließ: das Leben an der Schwelle des Todes. In diesem
letzten Akt, der dem Publikum gestern so sonderbar vorkam,
hat er es hoffentlich abgetan, nachdem es im „Schleier der
Beatriee“ eine so wundervoll purpurn leuchtende Renaissance
aus „Sterben“, „Liebelei“ und „Vermächtnis“ gefeiert hatte.
Nun hat er den Weg frei, wenn ihn das Leben mit anderer:
Stimme ruft. — Marie wird von ihrem Vater, einem ster=1
benden, harten, verbitterten Mann quälerisch und roh ein¬
geschlossen gehalten. In einer Nacht, in der sie dem Ge.n
fängnis entfliehen durfte, hat sie auf einem Ball einen Offi=|g
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zier kennen und lieben gelernt; sie hat ihn seitdem nicht ge¬
sehen, aber alles um sie her ist versunken, sie haßt den Vater
und weist einem früheren Verlobten die Türe. Da hört sie,
daß mit dem Morgengrauen des nächsten Tages das Regiment
jenes Offiziers ins Feld zieht, um nicht wiederzukehren. Sie!!
haben sich dem Tode geweiht, unm eine Schmach des Regnneurs
im vorigen Feldzug abzuwaschen. Der Arzt des Vaters, der
sie liebt und mit ihrer Jugend Mitleid enpfindet, bläst ihr
ahnungslos den Gedanken ein, nun den Vater zu verlassen und
dem Ruf des Lebens zu folgen. Wieder sperrt sie der Vater
ein, und sein Verhängnis treibt ihn, ihr zu erzählen, daß es
seine Feigheit war, um die die jungen Helden jetzt sterben
müssen, er hat die Schwadron geführt, die damals die Flucht
ergriff. Da gibt sie ihm einen „Schlaftrunk für hundert
Nächte“ und fleht zu „ihm". Der aber freut sich auf den
Tod, denn er will in ihm sühnen, daß er die Ehre seines
Obersten, den er liebt, der ihn liebt, beschmutzt hat. Schon
hat er von der schönen Frau Oberst Abschied genommen,
aber sie kommt wieder, um ihn zu schimpflicher Flucht ins
Leben zu bereden. Vorher aber ist Marie in sein Zimmer
geschlüpft und hat sich verborgen. Der Oberst überrascht das
Paar und schießt seine Frau nieder. Den Herrn Leutnant
begnadigt er dazu, die Schuld auf sich zu nehmen: „Sie
sind das Lügen ja gewohnt.“ Schon setzt der Todgeweihte die
Pistole an, da erscheint Marie und ruft ihn für diese Nacht
ins Leben zurück. Am Morgen verläßt er sie wie eine Dirne,
und erschießt sich neben der anderen. Sie aber lebt weiter
faßt es
und
nicht.
Pflückt Blumen, wärmt
sich an der
nicht.
Sonne und begreift sich
Sie wird wohl noch den Forstgehilfen heiraten, den einstigen
Verlobten, dem sie alles gesagt, dem ihre Beichte sie gereinigt
hat. Das Leben verschlingt seine eigeren Taten und Sen¬
sationen, nachdem es sie zerdrückt und beschmutzt hat, es spielt
mit Heldentaten und Sünden Fangball und läßt die wildesten
Gluten zu Eis erstarren und wieder in der Sonne zu einem
mild und träg' plätschernden Bächlein auftauen. Alles fließt
in einander. Die letzte Weisheit reicht der plattesten All¬
täglichkeit die Hand. Die Darstellung hat mit Ausnahme der
Frau Triesch und der Herren Bassermann und
Stieler kaum etwas für den Dichter geleistet. Von Herry
Rittner erzählen die Eingeweihten des Hauses, er habe
die Rolle nicht spielen wollen. Wie er sie dann doch spiolte,
par eine Beleidigung des Dichters und des Publikums.
Es wird noch manches über den Abend zu sagen sein, n dem
das Werk eines Dichters ein so schlechtes Geleit erhielt.
Telephon 12801.
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„JOUENVER
I. österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschnltte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Budapest. Chicage, Christiania, Genf, Kopenhagen,
London, Madrid. Mailand, Minneapolis, New-Vork, Paris, Rom,
San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus: Halun Omttalr
voni:
— cchien
1—
Theater und Musik
(Siehe auch erste Beilage.)
Lessing-Cheater
Zum ersten Male: „Der Ruf des Lebens“, Schauspiel
in drei Atten von Artur Schnitzler.
Alle guten Geister ...! aurusen, um sich
ihrer zu entsinnen, denn sic sind seit Geraumem vor unseren
Dramatikern auf der Flucht. Nun haben sie auch Schnitzler
verlassen, der mehr Dichter ist als die meisten, die der Bühne
opfern. Auch Patroklus mußte sterben ..
Es müssen furchtbare Stunden gewesen sein, in denen
Schnitzler dieses Stück schuf. Eins ist sicher: die Musen hatten
freien Abend. Und sie blieben über Zapfenstreich. Als die
Ausreißer heimkamen, war das Unglück geschehen. Schnitzler
hatte zum ersten Male ohne musischen Wochenbeistand ein
Stück zur Welt gebracht. Es war danach.
Der Ruf des Lebens! Beim Morgengrauen ist er ver¬
hallt, wie der Brunstschrei in den Wäldern, so fürchte ich. Und
was übrig bleibt, ist die bekannte sachte Beschämung. Und ich
fürchte weiter — nein, ich hoffe, auch Schnitzler wird diesen
Katzenjammer verspüren und sich schleunigst nach einem frischen
Trunke umsehen. Er, der so feine, nachschwingende Töne in
seinen Dichtungen zu finden wußte, wie auf einer Harfe, hat
aus Versehen den Schwengel eines „Hofklaviers“ in die
Hände bekommen. Erster Att: ein unmenschlicher alter Vater
(ha, willst du denn ewig leben?) wird von seiner Tochter ge¬
mordet, da das Fräulein die Nacht dem Geliebten schenken
will. Zweiter Akt: der Oberst eines österreichischen Reiter¬
Regiments steigt durchs Fenster in die Stube seines Leutnants,
in der sein junges Weib mit dem hübschen Kürassier Flucht¬
pläue schmiedet, hebt den Revolver, und — baus, hat er sie
bereits vor den Kopf geschossen, bevor ein Mensch drei zählen
kann. „Sie haben wohl die Güte,“ sagt er zu dem Ueber¬
lebenden, „die Sache auf sich zu nehmen und sich neben der
Toten umzubringen, da ich noch in die Schlacht muß. Guten
Morgen.“ Damit der Morgen gut wird, rast der Leutnant
mit dem Fräulein aus dem ersten Akt, die hinter dem Vorhang
ohne weiteren Nervenchoc die Sache mitgemacht, davon, um
die Gnadenfrist in heißer Liebe zu betäuben. (Eine Geister¬
musik intoniert: „Na un woll'n mr nochmal lustig sein,
Dritter Akt: Idylle bei einem poesiedurch¬
heirassassa ...“)
tränkten Oberförster. Er wird das Fräulein aus dem ersten
und zweiten Akt heiraten, sobald dieses über die ersten
Gewissensbisse weg ist. Wer ohne Schuld, der werfe den ersten.
Stein. Und der Herr Oberförster hat einmal ein junges
Mädchenherz geknickt, und das Mädchen hat sich darauf der Lust
in die Arme geworfen, denn es ist schwindsüchtig, und hat nicht
lange zu leben, und nun kehrt es heim, leider ans einem
Freudenhause, und während die Mutter den Pfarrer holt,
stirbt das junge Mädchen im Freien am fortgesetzten Lebens¬
wandel, und „Fortsetzung folgt“ wenn der nächste Groschen
fällig ist, und bis dahin fällt der Vorhang über der dritten
Leiche. Das erschütterte Publikum aber zischte vor Schmerz,
da es ihm unanständig schien, bei soviel Elend fröhlich in
die Hände zu klatschen.
Die Darstellung — und das ist fast ein Lob! — versagte
wie das Publikum. Irene Triesch als Fräulein aus
besagten Akten gelang es nicht, die Figur sympathischer zu ge¬
stalten. Das Gefühl des Abscheus blieb. Marr als wütiger
Vater unterstrich den lebenshungrigen Berserker noch bis zur
Unmenschlichkeit. Rittner hatte als Oberförster lauter
Gedichte in Prosa zu sprechen, was ihm und uns keine Freude
machte. Emanuel Reicher als Arzt hatte die Geschichte
auch satt, de## beteute im dritten Akt beständig, daß er zum
Militär einrücken wolle. Als junger Kürassierlentnant bot
Kurt Stieler eine Ueberraschung. Er hatte sich künstlerisch
auf Kandare genommen und schuf einen lebendigen Menschen.
Er kann, wenn er will. Die einzige großzügige Leistung war
Bassermanns Oberst. Mit wenigen Worten, wenigen
Strichen wuchs eine dämonische Figur empor.
Als die Theatereffekte verpufft waren, blieb nichts. Gar
nichts. Die Schicksale gemeiner Seelen im Kolvortagestil. O,
auch die Gemeinheit kann tragische Größe haben, aber sie muß
dann wenigstens — Größe haben. Denn es ist, um mit
Fiesco zu reden, doch etwas anderes, ob man eine Börse oder
einen Thronsessel stiehlt. Heute stahl man Börsen.
Rudolf Herzog.
S
er