II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 136

19. Der Ruf des Lebens
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W Theater und Kunst.
„Der Auf des Lebeno.“
(Schauspiel in drei Akten von Artur Schnitzler. Erste
Aufführung am Berliner Lessiug=Theater 24. Februar.)
Berlin, 24. Februar.
In der Richtung des „einsamen Weges“ ist
Artur Schnitzler eine gute Strecke weiter¬
gegangen, und von tieferer Melancholie noch ist
erfüllt sein Lied von der Ueberwindung des
Lebens durch das Leben. Und sublimierter noch
erscheint die neue Art der Welt= und Menschen¬
auffassung, die er in jener dramatischen Beichte
bekundete. Und lebhafter und weicher streicht¬
ihm die Phantasie um die harte Deutlichkeit der
Dinge herum; und immer dringlicher wird seine
Frage, nicht nach dem, was die Erscheinungen
sind, sondern nach dem, was sie bedeuten,
Aber nicht leugnet der Dichter pessimistisch den
Wert dieses so widerspruchsvollen Lebens; er
gelangt bloß zu der milden Weisheit Goethes:
„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.“ Die
wahrhaften Bedeutsamkeiten des modernen
Dichterschaffens führen an irgendeinem Punkt
ja doch alle auf Goethe zurück: In Goethe hat
Schnitzler sich hineingelesen und =gelebt, auch
der Dialog vor allem ist davon Zeuge, dieser
gehaltene, ruhige, ätherisch=feste Dialog, der mit
einem Satz, ja mit einem Wort oft von zeitlicher
Erörterung hinweg plötzlich schimmernde Fern¬
sichten in Lebensweiten und =Tiefen, in Ewig¬
gültiges eröffnet.
Es ist charakteristisch, daß unter und neben
diesem Ruf des Lebens, der in dem Schauspiel
an manche und mancherlei Menschen ergeht, der
Ruf des Todes erklingt, durchaus nicht kontrast
haft, sondern sozusagen brüderlich=verwandt. In
der Epoche, in die Schnitzler sein Drama hinein
verlegt, stand die Welt noch unter dem Zauber¬
bann der Romantik. Die Ideen haben geheim
nisvolle Kraft über die Triebe des Handelns
und der Nachruhm, die Märtyreraloriole in
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nicht zu teuer erkauft durch Opfertaten. Ein noch, ein eisgrauer, mißtranischer, bitterböser! froh
phantastischer Vorgang regt die Gemüter auf.
Mann, auf der Erde. Das Leben hat ihm nichts Daf
Das Volk ist in einen unglücklichen Krieg ver¬
Gutes gebracht, und doch hat den Achtzig¬
wickelt — da erinnert man sich in einem Reiter¬
jährigen das Grauen vor dem Tod noch nicht will
regiment, daß eine gewisse Schwadron einst in verlassen. So ragt er, schuldbeladen, ein falle
einem ebenso unglücklichen Feldzug durch feige dämonisches Symbol aus der Vergangenheit
gem
Flucht die Chancen einer Schlacht preisgegeben ins Gegenwärtige hinein. Und es ist hin¬
Nac
habe, und die Nachfahren der Schwadron ge¬
wiederum der Ruf des Lebens, der dieses
des
loben nun, durch einen Todesritt die Schuld zu
Symbol tilgt und auslöscht. Ihn vernimmt in
eine
fühnen, die von der Väter Tagen her über ihnen
ihrem häuslichen Sklavendienst die junge,
der
hängt. Die Geschichte meldet nichts von jener
schöne, heißblütige Tochter des alten Un¬
und
Fahnenflucht; sodann steht es so ziemlich fest,
geheuers. Schnitzlers süßes Mädel, eines von Sch
daß auch ohne den Rückzugs der Kavallerie der
den befleckten, unwissend=reinen Seelchen, die Tod
Kampf verloren gewesen wäre. Aber der Geist
zu lieben, aber auch zu leiden wissen.
der
der Legende ist stärker als die kühle Forschung.
Marie hat mit ihren sechsundzwanzig Jahren
den
und der Schwadronoberst hat leichtes Spiel, bei von den irdischen Freuden noch nichts genossen.
schw
seiner jungen Mannschaft den phantastischen
Von einem platonischen Herzenserlebnis, das
Lebe
Ehrbeariff bis zur Todessehnsucht zu steigern.
ihr in der großen Natur draußen ein melancholi= herb
Er selbst erlaubt sich dabei vielleicht nur einen scher Forstmann weckte, führt das Abenteuer dem
teuflischen Witz, einen kuriosen Akt der Selbst= eine Ballnacht sie jäh zu erotischen Wallung
verzweiflung: ihm liegt vielleicht weniger daran,
Ein forsch Reiteroffizier hat sie erobert,
en
die Fahne seines alten Regiments von der alten
wenn Marie sich bis heute nicht ihm wir
Schmach reinzuwaschen, als dem eigenen, durch
hingegeben hat, so ist die Ursache in Mar
Ma
die Untreue seines Weibes verpfuschten Dasein
„kränklichem Gewissen“, jenem Ibsen=Gew
ein glorreiches Ziel zu setzen — durch eine Apo¬
zu suchen, das übrigens dem süßen Wi
theofe von deren blutiger Herrlichkeit die zu¬
Mädel so gar nicht ansteht: Sie empfindet
künftige Geschichte melden wird.
Schuld, daß sie in Gedanken gebuhlt, in Ge¬
Dieses makabre Motiv ist es, das die
danken dem Bräutigam die Treue gebrochen. Pist
Stimmen des Lebens weckt: Stimmen jeder
in Gedanken den Vater gemordet, der ihr auf Lieb
Art und Wertung: sie rufen nicht nur zum
der Bahn zur Freiheit überall entgegentritt. ken
Genuß der Schönheit und irdischen Seligkeit,
Dieses Gewissen lähmt ihren frischen, kecken und
sie rufen auch zu allem Erbärmlichen und Hä߬
Willen zum Leben, zum Glück, lange. Bis jener
ihm
lichen — zur Untreue gegen die Pflicht, zu Ver¬
Ruf, der das Regiment ihres Geliebten in
gehungen der Selbstsucht, zu Mord. Ein gegen¬
den Tod treibt, auch an ihr Ohr schlägt. Da¬
heite
wärtiges Ereignis also macht sie frei. Aber bekommt sie ihren mutigen Willen zurück; über stalt
dem aufmerksamen Ohr klingen sie doch aus
die Leiche ihres Vaters (sie hat planmäßig dem Doch
einer tieferen Lage der Dinge herauf. Aus der
Verhaßten aus einem Medizinglas den Schlaf= Stin
Schuld der Väter, gegen die jetzt die Jugend
trunk vieler Nächte gereicht) hinweg eilt sie zu
trag
machtlos rebelliert. Der Todesruf, der die
schwüler Liebesnacht ins Haus ihres Max, des
hun
Reiter lockt, war ehedem ein Lebensruf: er, der
Offiziers, der morgen nicht mehr unter den
Hans
ihn einst vor dem Feinde hörte und der mit
Lebenden sein wird.
lösen
seiner Schwadron ausriß, um das holde
Ueber dem Haupte des Freundes nun ziehen
Wie
Diesseits wieder zu gewinnen und so an sich Tragödien mancherlei Art zusammen. Aus
an
säteren Verwicklungen schuldig zu werden, ist allen klingt der Ruf des Lebens. Der junge, Mar