II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 187

19. Der Ruf des Lebens
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Hermann Kienzl.
er nicht in den Tod, kein neues Motiv begründet die neue mörderische Handlung.
Es klirrt und es knallt eben nur, damit die Leute sich nach dem „Erlebten“
strecken. Die fatalistische Idee entartet.
Während der blutigen Vorgänge war jemand hinter der Gardine des Leutnant¬
zimmers versteckt. (Gewiß auch kein originelles dramaturgisches Mittel!) Das
ist Marie, die Heldin des Hauptromans. Sie kommt frisch von einem — Vater¬
morde. Sechsundzwanzig Jahre hat sie in der dumpfen Stube vertrauert wie
in einem Kerker, an der Seite eines seltenen Eremplars von Vater. Nicht ein¬
mal in die Küche ließ der Alte das Mädel, in der schuldbewußten Angst, daß
sie ihm davongehen könne. Man muß gestehen, daß eine solche Haft fast körperlich
unappetitlich ist .... Und wie er sie behandelte, ewig raunzte, sie piesackte! Nur
einmal in einem langen Jahre hatte Marie Lebensluft geschöpft. Zu gierig!
Auf dem Ballfest der Blauen Kürassiere war es. Dem Leutnant Max war sie
seither mit Leib und Seele verfallen. Daß sie mit einem anderen Manne so gut
wie verlobt war, galt ihr nichts mehr, die bescheidene Werbung des Hausarztes
beachtete sie nicht, den Vater=Kerkermeister haßte sie. Zum Blauen Kürassier ruft
sie das Leben, ruft sie, da die Kürassiere morgen in den Tod reiten, die einzige
lebendige Stunde ihres Lebens. Gepreßte Luft, die sich ein Ventil aufsprengt —
o ja, wir verstehen schon! Aber der physikalische Prozeß gibt uns doch eigentlich
nichts. J#end etwas muß tiefer in dem Menschen sitzen, der uns fesseln soll.
Nur wenn Marie uns rühren würde, hätte ihr brünstiger Röhrschrei nach dem
Leben Gewalt über unsere Seele. Das Mädel mit der einzigen selbstischen Note
ist so unsympathisch, daß wir gerade an diesem Beispiel dem Dichter nur zögernd
folgen, der im Schlußakte die weltliche Justiz mit einer höheren geistigen ver¬
tauscht. Am Ende des ersten Aktes hat Marie ihren Vater mit den praktikablen
Medizintropfen vergiftet. Von seiner Leiche weg fliegt sie in die Arme des Leutnants.
Wieder lugt eine Nebenabsicht des Dichters vor. In dem pensionierten Ritt¬
meister, dem abscheulichen Vater Maries, ironisiert er den banalen Lebenstrieb
ohne lebendige Stunden. Dieser armselige Haufen Qual unterjocht, um die Frist
seines Daseins möglichst zu verlängern, die Lebensrechte seiner ihn pflegenden
Tochter. Der fast achtzigjährige Rittmeister wiegt sich auch schadenfroh in dem
Gedanken, daß seine feige Selbstrettung vor dreißig Jahren es war, was die
Fahne des Regiments verunehrte, und was nun den Sühnetod der jungen Soldaten
zur Folge hat. Nebenbei: Diese Zusammenhänge erinnern doch einigermaßen an
die krausen Phantasiegebilde sehr wohlfeiler Romane.
Ist es schon schwer zu glauben, daß ein normal erzogenes Mädchen von
dem verröchelnden Vater, den sie mordete, zur Liebesorgie eilt, so erheben sich noch
schwerere Bedenken gegen die erotische Disposition des Leutnants Max. Geradezu
physiologische Bedenken
.. Das Blut sickert noch von der Leiche der Frau,
die er geliebt hat, die seinetwegen erschossen wurde. Der junge Mann selbst,
an dessen ernsten und ehrenhaften Charakter wir glauben sollen, geht wenige
Stunden später zu den Schatten. Sein unwiderruflicher Entschluß steht bereits
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