II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 196

19. Der Ruf des Lebens
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die Moskauer Gäste zu sagen haben,
gende, einem Einzelnen zuerteilte
spricht doch aus der Darstellungsart
Rede=Abschnitte aufweist. Diese zu
ihrer modernen Stücke. Tschechows
gliedern, die Worte des andern in
„Onkel Wanja“, so undramatisch die¬
sie eingreifen zu lassen und beide an¬
ses melancholische Lied des flügel¬
einander zu entzünden, ist eine Auf¬
lahmen russischen Pessimismus von
gabe, die die von den Herren Stanis¬
heute verklingt, ist insofern bedeu¬
lewski und Wladimir Nemirowitsch¬
tungsvoll, als hier die vom Wort
Dantschenko geleitete Regie in einer
in die Geberde oder geradezu ins
beispiellos glänzenden, alle Kritik ent¬
Schweigen verlegte Psychologie der
waffnenden Weise gelöst hat. Hier
modernen Dramatik auf die äußerste
vornehmlich werden wir von den
Spitze getrieben ist. Noch vor wenigen
Russen lernen müssen, wenn wir
Jahren würde sich unsere eigene Dar¬
nicht etwa wieder einmal die guten
stellungskunst vor dieser scheinbar
Lehren und Errungenschaften des
glatten und platten Fläche vorgekom¬
heute schon so tapfer geschmähten
men sein wie der Storch in der Fabel,
Naturalismus in Bausch und Bogen
der von einem Teller trinken soll und
über Bord werfen wollen.
das, obgleich doch der dramatische Na¬
Friedrich Düsel
turalismus bei uns seine literarische
Heimat hatte. Inzwischen freilich hat
SHeine in der Muserk
der puritanische Andeutungsstil hier¬
Gelegentlich von Heines Todes¬
zulande solche Fortschritte gemacht,
tag ist natürlich wieder davon die
daß wir uns schon wieder nach dem
Rede gewesen, daß er der meisckompo¬
Fluß und der Fülle des Pathos
nierte Dichter ist. Gibt doch Böhme
sehnen. Während sich bei uns so die
die Zahl der Vertonungen des Lie¬
Extreme jagen, erfreuen sich die Mos¬
des „Du bist wie eine Blume“ mit
kauer einer glücklichen Mitte. Unüber¬
etwa 300 an! Und eines steht fest:
trefflich in der zeichnenden (nicht stri¬
daß Heine nicht den kleinsten Teil sei¬
chelnden!) Geste und im stummen
ner Volkstümlichkeit wirklich den Mu¬
Spiel, wissen sie doch auch dem dich¬
sikern zu verdanken hat. Das deutsche
terischen Wort in seinem Ausdrucks¬
Bürgertum um die Mitte des 19. Jahr¬
willen überall nachzuhelfen, indem
hunderts wäre sicher zu ehrenfest und
sie die Sätze, wie es bei uns eine
vielleicht auch zu philiströs gewesen,
Zeitlang Mode war, nicht etwa zer¬
um Gefallen zu finden an den koket¬
hacken und zerreiben, sondern im
ten, ironischen, witzigen Liebesliedern,
Gegenteil erst recht auflockern und
mit denen Heine den Ton der Roman¬
entfalten. Geradezu meisterhaft und
tik anschläg“, um ihn zu persiflieren,
vollendet aber muß uns ihre Kunst
wenn die Komponisten den Scherz
erscheinen, wenn wir beobachten, wie
nicht ernst genommen und die Ge¬
sie nun dieses Spiel der Einzelnen
dichte nicht gutgläubig umgestimmt
ineinandergreifen lassen. Ich habe in
hätten. Was Heine so „leicht kom¬
den vier Akten des Tschechowschen
ponierbar“ macht, ist gewiß nicht
Stückes auch nicht eine einzige tote
nur der melodische Tonfall und die
Gruppe oder Stellung bemerkt, alles
Anmut seiner Verse; nicht nur die
webt und lebt sich ungezwungen in¬
volksliedartige Strophenbildung und
einander und schafft sich selber die
Syntax, sondern gewiß auch der
natürlichsten, ebensten Uebergänge, ob¬
Umstand, daß seine dichterische
gleich der Dialog der dramatischen
Sprache keiner sehr starken An¬
Beweglichkeit wenig entgegenkommt,
schauung entspringt und also auch
vielmehr oft lange zusammenhän= kein sehr starkes Nachschauen verlangt.
□2 Minheit 00.
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Musik