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19. Der Ruf des Lebens
In des Lentnants Bude angelangt, heißt es, sich rasch verstecken, denn
zuerst kommt die Frau des grimmigen Herrn Obersten zu ihrem Max, um
ihn zu belehren, wie man es anstellen muß, um ehrenvoll dem Tapferkeits¬
koller des Herrn Kommandanten zu entgehn. Ihr metaphysischer Leutnant
aber wehrt sich gegen solche Zumutung. Krach, die Scheiben brechen, der
Vorhang flattert und durchs Feuster steigt der Herr Oberst persönlich, um
nach kurzem Schimpfen mit lautem Bums die holde Gattin mansetot zu
machen. Den Subalternen dabei höflich ersuchend, den kleinen Mord einst¬
weilen bis morgen früh auf sich zu nehmen. Die arme Marie kann endlich,
über die zweite Leiche steigend, ihren Max in einen andern Salon der Leut¬
nantswohnung reißen, um dort mit ihm bis zum Abmarsch den Ruf des
Lebens zu exekutieren.
Gab's also in den beiden ersten Akten genugsam theatralischen Spek¬
takel, so kommt im dritten Akt die Idylle.
Der merkwürdige Arzt, die gute alte Tante, ein abgewiesener, ab¬
grundfader Freier Mariens, diese selbst und zuletzt die nette, kleine Katharfna,
die wochenlang verschollen war und jetzt plötzlich, eine neue Ophelia, mit
frisch gebügeltem Ballkleidchen, aber zerrissenen Schuhen —- ist sie doch, dem Ruf
folgend, die Straße des Lebens fleißig abgelaufen — nach Hause kommt, um
die dritte Leiche abzugeben. Sonst geht alles friedlich und sanft ausklingend
im modernen Schlusse unter.
Wer schuld daran ist, daß dieses schon 1906 in Berlin durchge¬
fallene Stück jetzt den Wienern serviert wird, weiß ich nicht. Jedenfalls
nicht ein Freund Schnitzlers. Oder war es bloß eine Spekulation, die rä¬
sonierte: Schnitzlers Kreationen, jenseits des „Reigen“, sind pikante und
es muß doch auf die Wiener Weiber wirken, wenn gleich zwei Frauen in
einer Nacht zu einem Lentnant kommen!
ist sie gezeichnet. Daß sie gegen ihren widerwärtigen Vater nur Pflicht,
schweigende Fflicht tut, finden wir begreiflich, aber was wissen wir von ihr
sonst? Nichts, als daß sie brünstig ist bis zum siebzehnten Grade. Daß
man aus Liebe mordet, kann gewaltig und schön sein — den Riegel auf zum
Tor des Lebens, wer den Weg verstellt, muß weichen —, aber diese aus allen
Poren spritzende Geilheit, neben dem Leichnam der Nebenbuhlerin betätigt, ist
einfach widerlich.
Wir denken nicht mehr mittelalterlich genug, um zu dulden, daß uns das
stärkste Gefühl im Menschen neben Hunger und Durst als Sünde deklariert
werde. Schnitzler hat auch die Notwendigkeit des raschen Handelns der Marie
genugsam aufgezeigt und offenbar geglaubt, was künstlerisch motiviert sei,
müsse auch ästhetisch befriedigend wirken. Leider versagt aber gerade diese
Argumentation durch die Roheit der Mache.
Besser ist Katharina weggekommen. Ihren Lüsten hängt Sch. ein
Mäntelchen um. Krank ist sie und nur kurz noch soll ihr Erdenwallen sein,
drum rasch ein Teil erfaßt von dem, was hier das „Leben“ heißt. Im letzten
Akt habe ich sie nicht verstanden. Vom Baume der Erkenntuis hat sie die Frucht
geholt, mit tändelndem Kinderwort aber, voll Keuschheit und süßem Nicht¬
verstehn, begleitet sie den Wiedereinzug bei der harrenden Mutter. Schloh¬
weiß und rein das Kleid, der Schuh aber zerrissen, welch mystisch=tief Mirakel!
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19. Der Ruf des Lebens
In des Lentnants Bude angelangt, heißt es, sich rasch verstecken, denn
zuerst kommt die Frau des grimmigen Herrn Obersten zu ihrem Max, um
ihn zu belehren, wie man es anstellen muß, um ehrenvoll dem Tapferkeits¬
koller des Herrn Kommandanten zu entgehn. Ihr metaphysischer Leutnant
aber wehrt sich gegen solche Zumutung. Krach, die Scheiben brechen, der
Vorhang flattert und durchs Feuster steigt der Herr Oberst persönlich, um
nach kurzem Schimpfen mit lautem Bums die holde Gattin mansetot zu
machen. Den Subalternen dabei höflich ersuchend, den kleinen Mord einst¬
weilen bis morgen früh auf sich zu nehmen. Die arme Marie kann endlich,
über die zweite Leiche steigend, ihren Max in einen andern Salon der Leut¬
nantswohnung reißen, um dort mit ihm bis zum Abmarsch den Ruf des
Lebens zu exekutieren.
Gab's also in den beiden ersten Akten genugsam theatralischen Spek¬
takel, so kommt im dritten Akt die Idylle.
Der merkwürdige Arzt, die gute alte Tante, ein abgewiesener, ab¬
grundfader Freier Mariens, diese selbst und zuletzt die nette, kleine Katharfna,
die wochenlang verschollen war und jetzt plötzlich, eine neue Ophelia, mit
frisch gebügeltem Ballkleidchen, aber zerrissenen Schuhen —- ist sie doch, dem Ruf
folgend, die Straße des Lebens fleißig abgelaufen — nach Hause kommt, um
die dritte Leiche abzugeben. Sonst geht alles friedlich und sanft ausklingend
im modernen Schlusse unter.
Wer schuld daran ist, daß dieses schon 1906 in Berlin durchge¬
fallene Stück jetzt den Wienern serviert wird, weiß ich nicht. Jedenfalls
nicht ein Freund Schnitzlers. Oder war es bloß eine Spekulation, die rä¬
sonierte: Schnitzlers Kreationen, jenseits des „Reigen“, sind pikante und
es muß doch auf die Wiener Weiber wirken, wenn gleich zwei Frauen in
einer Nacht zu einem Lentnant kommen!
ist sie gezeichnet. Daß sie gegen ihren widerwärtigen Vater nur Pflicht,
schweigende Fflicht tut, finden wir begreiflich, aber was wissen wir von ihr
sonst? Nichts, als daß sie brünstig ist bis zum siebzehnten Grade. Daß
man aus Liebe mordet, kann gewaltig und schön sein — den Riegel auf zum
Tor des Lebens, wer den Weg verstellt, muß weichen —, aber diese aus allen
Poren spritzende Geilheit, neben dem Leichnam der Nebenbuhlerin betätigt, ist
einfach widerlich.
Wir denken nicht mehr mittelalterlich genug, um zu dulden, daß uns das
stärkste Gefühl im Menschen neben Hunger und Durst als Sünde deklariert
werde. Schnitzler hat auch die Notwendigkeit des raschen Handelns der Marie
genugsam aufgezeigt und offenbar geglaubt, was künstlerisch motiviert sei,
müsse auch ästhetisch befriedigend wirken. Leider versagt aber gerade diese
Argumentation durch die Roheit der Mache.
Besser ist Katharina weggekommen. Ihren Lüsten hängt Sch. ein
Mäntelchen um. Krank ist sie und nur kurz noch soll ihr Erdenwallen sein,
drum rasch ein Teil erfaßt von dem, was hier das „Leben“ heißt. Im letzten
Akt habe ich sie nicht verstanden. Vom Baume der Erkenntuis hat sie die Frucht
geholt, mit tändelndem Kinderwort aber, voll Keuschheit und süßem Nicht¬
verstehn, begleitet sie den Wiedereinzug bei der harrenden Mutter. Schloh¬
weiß und rein das Kleid, der Schuh aber zerrissen, welch mystisch=tief Mirakel!
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