II, Theaterstücke 18, Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten (Junggeselle, Junggesellenstück, Die Egoisten, Einsame Wege, Wege ins Dunkle, Weg zum Licht), Seite 177

Das Milien nimmt auch den Kritiker gefangen. Die langen,
öffentlichen Vorbereitungen einer Theatervorstellung, die jede heimliche
Absicht der Direktion deutlich merken lassen; die vornehmen Herren
und Damen, die bei der Première in ihren, glänzendsten Toiletten
erscheinen und deren lautes Urtheil auch er vernehmen muß; die leise
mitklingende, unkünstlerische, aber menschliche Bewerthung der wochen¬
lungen Arbeit und des rasch verbrauchten Geldes: all dies trübt auch
den schärfsten Blick für eine Stunde — und in derselben Stunde muß
der Kritiler seinen Bericht formuliren. Ton und Breite der Theater¬
kritik kann nur dadurch verstanden werden; nur so ist es erklärlich,
daß die Stücke eines jeden — sagen wir — Alfred Capus ausführ¬
licher und fast liebevoller besprochen werden, als die Romane des
Anatole France. Aber am Ende des Jahres kommt die idealste,
selbst von dem Theater unabhängige Theaterkritik zu ihrem Rechie.
Das Fieber des Zuschauerraumes ist geschwunden. Der Kritiker
überblickt seine eigenen Impressionen mit der Ruhe des Historikers.
Ist es seine Schuld, daß ihm manchmal ein Theaterjahr weniger vor¬
kommt, als ein Theaterabend?
Allgemeine Betrachtungen können den Rückblick auf die ver¬
flossene Berliner Theaiersaison diesmal nicht rechtfertigen. Das
Ensemble der Reinhardi'schen Bühnen hat erst vor Kurzem die
Bekanntschaft ihrer neuesten Stücke dem Budapester Publilum ver¬
mittelt. Der tiefste Erfolg des Jahres, Gerhart Hauptmann's „Rose
Bernd“, wurde in diesen Spalten zweimal besprochen. Der geräusch¬
vollste Erfolg des Jahres, der „Zapfenstreich“ von Franz Adam
Beyerlein, ist aus dem Lustspieltheater bekannt. (Den märchenhäften
Tantiemenziffern dürfte mein Separawvotum wenig schaben.) Auch
„Ora et labora“, Heijermans' friesisches Bild wurde auf einer
Sommerbühne schon dargestellt. Eine zusammenfassende, kausale
Würdigung des Jahres ist also verspätet. Nur auf einzelne Stücke
kann noch hingewiesen werden, Stücke, bei denen die Kassen nicht
gestürmt wurden, die daher bei den Theateragenturen nicht besonders
angeschrieben sind und einen Triumphzug durch Europa natürlich
nicht mehr hoffen können. Und doch würde die Geschichte der aller¬
letzten Dramenliteratur ohne diese Stücke nicht vollständig sein.
Theatererfolg und Literaiur sind eben lunenhafte Geschwister; selten
vertragen sie sich; oft gehen sie schon von Weitem einander aus
dem Wege.
Der irische Dichter Bernard Shaw erschien zuerst mit seinem
Einakter „Der Schlachtenlenker“ auf einer Berliner Bühne. Eine
historische Anekdote; ein Wochentag aus dem Leben des Großen
Napoleon. Dem jungen, unbedeutenden, adeligen Lientenant des
Stückes wird von dem Antor folgende Instruktion gegeben: er spricht
mit Napoleon, als wenn er von Waterloo und St. Helena und den
Napoleonbildern von Meissonier keine Ahnung hätte. Shaw betrachtet
seinen Helden ebenso — und schon ist er kein Held: das ist die
witzige Lehre des kleinen Stückes. Dann kam „Candida“. Und
Vernard Shaw, der selbstgefällig die Rolle des „Geistes, der stets
verneint“, gewählt, der Alles, was Heldenthum genannt oder als
solches betrachtet wird, mit überlegenem Lächeln analysirt: er selbst
zeigte uns diesmal eine Heldin. Freilich nach dem eigenen Geschmack,
nach seinen eigenen Begriffen des Heldenthums hat er seine
„Candida Morell“ geschaffen. Sie ist die Frau eines englischen
Pastors, die bei Gelegenheit mit ruhigem Stolz sagen darf: „Fragen
Sie Jakob's Mutter und seine drei Schwestern, was es gekostet
hat, Jalob die Mühe zu ersparen, irgend etwas zu thun,
— fragen Sie mich,
als stark, llng und glücklich zu sein,
was es mich kostet, Jakob's Mutter und seine drei Schwestern
und seine Frau und Mutter seiner Kinder — Alles in
Einem — zu sein! Ich habe ihm ein Schlöß von Behaglichkeit,
Nachsicht und Liebe erbaut und stehe immer Schildwache davor, um
kleinen Leberssorgen den Eintritt zu verwehren. Ich mache ihn hier
zum Herrn, obwohl er es nicht weiß und Ihnen vor einem Augen¬
blicke nicht sagen konnte, wie er dazu gekommen ist, es zu sein.“ Der
Pastor Jakob Morell ist Sozialpolitiker und Redner von Bedeutung.
Vor der Burg seines Glückes hält Candida Wacht. Aber Eugen
Marchbanks, einen blutjungen Dichter von zwanzig Jahren hat er
selbst in diese Burg geführt. Er fand den unbeholfenen Jüngling auf
der Straße, mit leerem Magen und mit einem Check auf fünsund¬
fünfzig Pfund in der Tasche. Wie sollte ein Dichter wissen, daß Checks
auch vor dem Verfallstag einzulösen sind? Die Welt glaubt er zu
verstehen und die Menschen zu kennen; bekommt aber
Herzklopfen vor Angst und Zweifel, wenn er die Tare
einer Droschte begleichen soll. Er verliebt sich sofort in
Candida und gesteht seine stürmische Liebe offenherzig dem
Gatten, der — Eugen verheimlicht auch diese Ueberzeugung nicht —
seine Frau nicht versteht und nicht verdient. Morell lacht dem Knaben
ins Gesicht. Er ist nicht eifersüchtig; Marchbanks soll nur ruhig weiter
bei ihnen bleiben. Und Candida? ... Die Frau überlegt mit sonder¬
barer Furcht, was er dann von ihr denken werde. „Das wird ganz
davon abhängen .. . ja, es wird davon abhängen, was er bis dahin
erleben wird. Es hängt ganz davon ab, wie und durch wen ihm
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sehen lassen — aber Verschwender sind wir nicht gewesen.“ „Anderen
mögen unsere Thorheiten, unsere Niederträchtigkeiten verborgen
bleiben, — uns selber nie.“
Der Fall Fichtner ist wohl interessanter. Vor vielen, vielen
Jahren hat er sich in die Braut eines Freundes verliebt. Es war
Glück und Sünde, Schicksal und Verrath. Es war ein Traum. Sie
wollten Beide fliehen. Und Fichtner ist allein geflohen. Damit er das
Leben bis zu Ende leben und genießen kann, allein, unabhängig. Das
Mädchen heiratheie den Verlobten und Niemand ahnte, daß ihr Sohn,
Felir, das Kind von Fichiner sei. Nach zehn Jahren kehrte der herum¬
irrende Maler zurück, lebte in ruhiger Freundschaft mit der einstigen
Geliebien — und der Vater hat seinen Sohn liebgewonnen. Zwischen¬
dem ersten und zweiten Akt stirbt die Frau: an ihrem letzten Abend
sprach sie mit Felir über ihr Bild, das Fichiner in ihren Mädchen¬
jahren gemalt. Der Sohn möchte dieses Bild betrachten und erfährt¬
die Wahrheit. Denn Fichtner will seine Rührung gar nicht mehr
verbergen; denn er hegt nur den einen Wunsch, daß Felir in bewußt
findlicher Liebe ihn umarmen soll. Der junge Offizier hört ruhig die
Geständnisse seines Vaters an. Er kann nicht Betrüger und Betrogene
sehen, wo ihm bis vor einer Stunde Menschen, die ihm werth sind, in
so reinen Beziehungen zu einander erschienen. Er verurtheilt Nieman¬
den. Aber daß er der Sohn von Fichtner ist: es ist nichts, als ein
Wort. Es klingt ins Leere. „Sie sind mir fremder geworden, seit ich
es weiß.“
Was Siesan v. Sala — zufällig während derselben Zeit —
durchlebt, ist zu beweglich und verwickelt für eine Episode und enthüllt
das Innere dieses werthvollen Menschen nicht genügend. Wir wissen
von seiner unheilbaren Krankheit; später erfährt von diesem Herz¬
leiden auch die Geliebte, die Schwester Felir', und nach einer glücklichen
Stunde des Verstehens entschließt sie sich, ihm — dem zu Tode Ver¬
urtheilten — zuvorzukommen; schließlich wird Sala selbst des nahen
Endes bewußt und wartei dieses Ende nicht ab. Eine gewesene
Schauspielerin, Irene Herms, wird uns flüchtig vorgestellt. Sie war
vor Jahren die Geliebte Fichtner's. Auch sie ist im Alter einsam
geblieben. Sie hat die Bühne und den Ruhm der Mutterschaft vor¬
gezogen. Jetzt hai sie keine Bühne, keinen Ruhm, und keine Kinder.
Die unbedeutendste Rolle ist dem Gatten zugefallen, der den Betrug
niemals geahnt, und der am Schlusse des Stückes, wo er von dem
Tode der Tochter hört und Felir um Athem ringend, mit dem Rufe
„Vater!“ seine Hand küßt, nachdenklich sagt: „Müssen solche Dinge
geschehen, daß mir dieses Wort klingt, als hört ich's zum ersten
Male?“
Man könnte sagen: wie sein ist dieser Schluß! Der Schmerz
gibt den banalsten Worten neue Färbung, neuen Inhalt. Man könnte
aber auch sagen: der Schluß ist geschmacklos: Denn dieser Ruf und
der darauffolgende letzte, langschwingende Akkord kokettirt doch mit der
Thatsache, daß der alte, unglückliche Mann icht der Vater des Jüng¬
lings ist, der ihm die Hand küßt, daß der wirkliche Vater neben ihnen
auf der Bühne steht. Ueber Schnitzler's Stück ist also zweierlei Kritik
möglich. Es wäre vielleicht nicht schwer zu beweisen, daß er diesmal
sein ungelentigstes Theaterstück geschrieben hat. Es wäre aber auch
fleicht zu beweisen, daß „Der einsame Weg“ doch das Tiefste, Werth¬
vollste ist unter Allem, was er bisher geschaffen. Man sagte: Anatol
ist alt geworden. Ja, der Held der leichten Abenteuer spricht heute so:
„Lieben heißt, für jemand Andern auf der Welt sein. Was hat das,
was Unsereiner in die Welt bringt, mit Liebe zu thun? Es mag
allerlei Lustiges, Verlogenes, Zärtliches, Gemeines, Leidenschaftliches
sein, das sich als Liebe ausgibt, — aber Liebe ist es doch nicht.
Der freche Anatol ist gestorben. Aelter geworden ist nur Arthur
Schnitzler. Reifer, tiefer, ein echter Künstler. Und nur das ist von Be¬
lang. Daneben ist es wirklich unbedeutend, ob sein letztes Drama ein
gutes Stück ist oder nicht. Er darf natürlich nicht überrascht sein, wenn
er auf seinem einsamen Wege weniger Beifall findet.
Berlin.
Eugen Robert.