II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 221

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16.1. Lebendige Stunden zyklus
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Theater=Korrespondenz.
bloß eine Flucht vor dem zu kalten Ofen. Oder: Der moderne Theater¬
dichter hat sich in die Einsamkeit begeben, denn: „der Dichter bedarf
der Einsamkeit.“ Er will seine Seele frei machen in der Ein¬
samkeit, am „Busen der Natur genesen“ und die reine Stimme der Muse
vernehmen. Die Muse redet aber nicht. Die Einsamkeit wird verdammt lang¬
weilig, die Seele, die nicht schaffen kann, wird von Melancholie befallen. Also
auf in die Stadt! Denn: „der Dichter, der moderne Dichter, muß sich vom
Strom des lebendigen Lebens umfluten lassen, er muß unter die Menschen gehen,
unter die modernen Menschen, wenn er sie begreifen und treu darstellen
will.“ Im Hause, auf seinem Schreibtisch, haben sich die Einladungen ge¬
häuft: Bälle, Diners, Soupers, Konzerte, wohlthätige Veranstaltungen.
Das Leben lockt, das Leben winkt. Und er folgt der Lockung. Und es
ist süß — das „digito monstrari“; es wärmt, in das Krenzfener brennender
Damenblicke genommen zu werden; es thut wohl, sich als der Erste, der
Gefeierte, der Berühmte zu fühlen. Das beftügelt sogar die Phantasie, das
stachelt die Nerven. Das Ichgefühl erwacht und damit sogar eine Art Fähig¬
keit zu neuem Können. Wirklich, am folgenden Tage im Arbeitszimmer
beginnt die Arbeit, nicht aus dem Drang des Herzens heraus, nicht aus der
Fülle einer Seele, die eine Welt umschließt, sondern aus der Koketterie
des eitlen Ichs mit dem „modernen Zeitgeist". Und dann erhalten wir
die Stücke, bei denen aus jedem Wort die selbstgefällige Visage des Ver¬
fassers hervorlugt und hinter dem gesprochenen Dialog der Schauspieler
hören wir den Monolog des Antors: „Ich — der erfolggekrönte
Dichter-
— Ich geruhe zum Volke zu reden.“ Bumsfallera: jedes Wort ein
Kanonenschuß.
Da solch ein modernes Theaterschriftstellerdasein in dem Zwiespalt
zwischen Geschäftsnothwendigkeiten und eitlen Dichterillusionen von Lannen
gepeinigt, von Nervenanfällen gemartert wird und unstet hin und her
taumelt, erklärt sich auch der geradezu erschreckende Mangel an Geistes¬
bildung. Die Geistesschätze des deutschen Volkes existiren für dieses Leben
gar nicht. Denn es fehlt die Ruhe und die Kraft, die selbstlose Hingabe.
die nöthig sind, um sich z. B. in einen großen Philosophen oder Historiker
zu vertiefen. Was haben Goethe und Schiller und Hebbel und
Ludwig auch außerhalb der Dichtkunst gekonnt, gewußt und geleistet! Ein
moderner Theaterschriftsteller kann nicht zehn Seiten Geisteswissenschaft
selbständig produziren. Diese mangelnde Bildung hat eine gar nicht so
leicht wiegende Folge. Sie trennt nämlich den Schriftsteller von der
deutschen Bildungswelt, im besonderen von deren offizieller Vertretung, dem
Professorenkreis der Universitäten. Schiller und ein deutscher Professor —
wie identisch sind sie vielfach! Hebbel und Otto Ludwig haben ihren Platz
auch in der deutschen ästhetischen und literarischen Wissenschaft. Die
modernen Theaterschriftsteller sind außerhalb des Theatergeschäfts ohne
Bedeutung. Vom Kreise der deutschen Bildung sind sie so gut wie aus¬
geschlossen, nicht mit Absicht natürlich und nicht formell und offiziell, aber