II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 327

16.1. Lebendige Stunden zyklus
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Ausschnitt
„OBSERYER“
Nr. 26
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Ausschnitt aus:
Die Zeit Wien
vorr 10/87107
Schnitzlers „Lebendige Stunden“.
Director Brahm hat es gut. Er kann bei den Gastspielen seines
— Theaters in Wien den Wienern als Novitäten vorführen, was
—in Berlin längst alle Welt gesehen hat. Selbst die jüngsten Stücke
des Wieners Arthur Schnitzler, mit denen das Berliner deutsche
Theater diesmal sein „Gesammtgastspiel“ eröffnet hat, sind den
Wienern „sensationelle Neuheiten“ nicht minder als sein vor¬
letztes Drama „Der Schleier der Beatrice“ es wäre, zu welchem die
Leute, die es unseren Theaterleitern und Theaterverhältnissen
zum Trotze sehen wollten, im Vorjahre — nach Breslau fahren
konnten. Dafür hat man uns die neuesten Werke von Blumenthal
und Misch, von Kadelburg und Triesch nicht vorenthalten — und
50
Für
Schnitzler mag sich damit trösten, dass wir ja Heyermans auch nur
100 durch unsere Berliner Gäste beziehen und von Ibsen überhaupt
200 nichts mehr hören und sehen würden, wenn nicht Fremde ihn uns
500
1000 gelegentlich vorführten oder ein Verein sich jener Aufgaben an¬

nähme, die unsere heimischen öffentlichen Bühnen immer mehr ver¬
II nachlässigen.
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„Lebendige Stunden“, so nennt Schnitzler seine vier Einacter.
Er nennt sie so nach dem Titel des an den Anfang gestellten
De Stückes, und er nennt sie so nach einer gewissen Beziehung, in die
Inhaltsar der Titel oder die Idee dieses ersten Stückes auch zu den anderen
dlätte gebracht werden kann. Freilich kaum nach einem einheitlichen Ge¬
wodurch sichtspunkte. „Lebendige Stunden“ sind es aber wohl gewesen, in
Leben cdenen der Dichter die Eindrücke empfieng, die er festgehalten und
theilung künstlerisch gestaltet hat. Denn aus dem vollen Leben hat er ge¬
schöpft und weit hinaus noch über die dramatische Wirkung des
Augenblickes reicht das Wechselspiel der Gedanken, das er in uns
angeregt und dessen Fortführung — er uns selbst überlassen hat.
In die beiden ersten Stücke und in den, gleichsam wie ein
Satyrspiel, den Cyklus beschließenden Schwank „Literatur“ spielt
das Verhältnis herein zwischen dem Schaffenden und dem Stoff,
den er verarbeitet, dem Leben, das er lebt, den Leben, die zu ihm
und seinem Wirken in Beziehung treten. Kein Vernünftiger wird
es als einen Vorwurf gegen den Dichter empfinden, wenn man
sagt, dass es Ibsen'sche Gedankenreihen sind, die Schitzler aufnimmt
und weiterführt und die er, dem großen Nordländer gleich, in offenen
Fragen ausklingen lassen müsste — weil es auf sie keine Antworten
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gibt — hätte er nicht mit großem technischen Geschick die scharfen
widerstreitenden Spitzen, die er zuerst sorgsam zugeschliffen hat,
vertheilt und verborgen.
Fast alle späteren Dramen Ibsens berühren in irgend
einer Form das Verhältnis des Künstlers zu seinem Modell, zu
jenen Personen, die ihm durch ihr Leben und Lieben und Leiden
und Sterben den Stoff geben für sein künstlerisches Schaffen, deren
verrinnendes Leben er festhält, es der Nachwelt zu überliefern, in
das er aber rücksichtslos und zerstörend hineingreift mit der derben
Faust des Egoisten. Schon dem kleinen Bildhauer Lyngstrand in
der „Frau vom Meere“ erscheint es als verlockender Gedanke, dass
ein Weib sich um ihn in Liebesgram verzehre und ihn so zu Kunst¬
werken inspiriere, und dem großen Bildhaue. Rubeck in Josens „Epilog“
war für die Lösung der Frage, ob ihm Irene nur Modell oder auch
Geliebte sein solle, nur der Umstand entscheidend, ob dies oder jenes
für seine Arbeit förderlicher sei. Auch der „Dichter“ Heinrich in
dem einleitenden Schauspiele „Lebendige Stunden“ hat etwas
von der Denkweise dieser seiner Collegen aus dem Reiche der
Plastik. Nur hat hier Schnitzler die Frage aus der Sphäre
des Geschlechtslebens in eine viel höhere, in die reinste und
höchste, die es gibt, gehoben, in die der Liebe der Mutter
zu ihrem Kind. Und seinem Dichter hat er einen Zug mitgegeben
von Hjalmar, nicht von Hjalmar Ekdal bloß, sondern auch von
jenem großen Hjalmar, der in allen Menschen steckt. Wir werden
den Verdacht nicht los, dass der Dichter Heinrich, der seit Jahr
und Tag auf einmal nicht mehr dichten konnte, weil die Krankheit
seiner Mutter ihn im Dichten störte, nicht viel höher steht als
Dichter denn Hjalmar Ekdal als Erfinder, und auch der alte Haus¬
dorfer, der langjährige Freund seiner Mutter, scheint dieser Meinung
nicht ganz abhold zu sein. Aber Heinrich hat den Glauben an sich
und die Selbstgefälligkeit und Selbstsucht, die aus ihm ent¬
springt. Er erfährt, seine Mutter habe sich selbst getödtet, sie hätte
noch jahrelang leben können, hätte sie nicht ihre Leiden verkürzt,
nicht um ihren Leiden zu entgehen, sondern weil sie den Sohn mit
leiden sah, um ihm seine Schaffenskraft wiederzugeben. Aber er
tröstet sich damit, dass er den Beweis versuchen will, seine Mutter
sei „nicht vergeblich gestorben“. Und in ein paar Tagen, meint
Hausdorfer, der seinen Heinrich kennt, wie Doctor Relling seinen
Hjalmar Ekdal kannte, nimmt er es „vielleicht hin, als wär es ihre
Schuldigkeit gewesen“. Und nun hebt Schnitzler mit einem Ruck
seine Personen hoch empor über den einzelnen Fall. Hausdorfer wirft.
die Frage auf, was denn das „Dichten“, die ganze Kunst gegen
das reale Leben sei, aus dem sie ihre Opfer holt. „Was ist denn
deine ganze Schreiberei, und wenn du das größte Genie bist, was
ist sie denn gegen so eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in
der deine Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu uns
geredet hat, oder auch geschwiegen — aber da ist sie gewesen
dal und sie hat gelebt, gelebt!“ Und Heinrich erwidert, aber nicht
mehr Heinrich, der Dichterling, der kein Dichter ist, nicht mehr der
kleine Hjalmar, sondern der große, der wirklich ein Erfinder oder
auch ein Dichter sein mag. „Lebendige Stunden?“ fragt er. „Sie
leben doch nicht länger als der letzte, der sich ihrer erinnert. Es
ist nicht der schlechteste Beruf, solchen Stunden Dauer zu verleihen,
über ihre Zeit hinaus.“ An den Preis, den seine künftigen Werke
gekostet haben, hat Heinrich Hjalmar vergessen, auch dem Dichter
Schnitzler mufste er aufgehen in der allgemeinen Frage nach dem
Werte der Kunst.
Die Gestaltung des Erlebten zum Kunstwerk greift auch
herein in das zweite Stück „Die Frau mit dem Dolch“. Der Gatte
Paulinens hat sein und ihr Liebesleben, „seinen Verrath und ihre
Verzweiflung und seine Rückkehr und ihr Verzeihen und alle Er¬
bärmlichkeit und alle Glut“ dazu benützt, ein Stück daraus zu
machen und so „seinen Witz oder — wie Leonhard, ein Bewerber
um Paulinens Gurst, concediert — meinethalben sein Genie zu
zeigen“. Und ebenso war vor so und so viel hundert Jahren dem
Maler Remigio in Florenz die Untreue seiner Frau Paola und
der Mord, den sie an jenem Lionardo begangen, dem sie nur aus
Sinnenlust, nicht aus Liebe sich hingegeben hatte, nichts anderes
als eine gütige Fügung des Himmels, durch die ihm eine „Er¬
leuchtung“ wurde, wie er sein begonnenes Bildnis vollenden
solle. Aber der Dichter tritt diesmal dem Problem nicht näher,
er lässt nur Lionardo=Leonhard über den Cgoismus des Künst¬
lers raisonnieren. Sein Interesse und mit ihm das des Zu¬
schauers wendet sich mehr der Art und Weise zu, wie er die
beiden Geschichten, die Schicksale Leonhards und Paulinens und
Lionardos und Padias, mit einander verknüpft. Er führt uns
mit einemmale ins romantische Land und rührt an jenen ge¬
heimnisvollen Saiten in unserem Innern, die in uns manchmal
wie Ahnungen aus fernen Vergangenheiten, wie dunkle Erinne¬
rungen an Leben, die wir schon einmal gelebt, erklingen, oder deren
Töne wir doch so zu deuten meinen. Und das technische Problem
reizt ihn, durch Vorführung der einen alten Geschichte, uns den
Ausgang der jetzt sich abspielenden neuen anzudeuten. Wie Paola
dem Lionardo sich hingab aus sinnlicher Laune, mit der Liebe zum
Gatten im Herzen, ganz in gleicher Stimmung, verheißt auch
Pauline dem Leonhard ihr „Kommen“; wie Paola den Lionardo