II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 465

Feuilleton.
Grazer Theaterbrief.
Im Mai.
Eines sehr glücklich verlaufenen Gastspiels muß ich noch dankend
erwähnen, des zweimaligen Auftretens L. Martinelli's. Sein Hub¬
rein zufällig — noch nicht bekannt. Jeder Dichter
mayr war mir
wird für einen seinen Absichten in solchem Maße entsprechenden
Darsteller dankbar sein können. Auch Martinelli hat das „Spielen“
überwunden; er kann hinter seiner Rolle verschwinden. Das macht
ihn wie Jeden, der es soweit gebracht hat, liebenswerth. Das Stück
selbst „Der Fleck auf der Ehr“, entspricht uns heute nicht mehr
ganz. Seine Technik ist schon in vielen Stücken veraltet. Aber
wirksam bleibt noch immer seine Mischung von tragischen, komischen
und sentimentalen Elementen. Fräulein Sussin gab die Franzl und
sang dabei sogar sehr geschmackvoll. Sie kann wirklich viel. Sehr
tapfer war Fräulein Bleibtreu als Christine.
Leider hört man, daß auch diese Künstlerin Graz verläßt. Es
läuft überhaupt Alles davon. Wenn es so weiter geht, dann werden
wir im nächsten Jahre zwar einen Direktor aber keine Künstler haben.
Der Direktor hat übrigens unlängst selber um seine Demission gebeten.
Ich vermag den Grund dieser, wie man sagt, jetzt überwundenen
Direktionskrise nicht klar zu erkennen, aber gewiß ist, daß unser
Theaterwesen bis jetzt nicht zur Ruhe kommen konnte und daß da¬
durch ein guter Theil des Publikums verletzt wurde und das Inter¬
esse theilweise verlor. Es ist unangenehm und lästig, fast alltäglich
mit Theatergeschichten äußerlicher Art behelligt zu werden. In Wien
ist von Mahler selten, von Schlenther so gut wie nie etwas zu hören
und ebensowenig von den anderen Direktoren. Bei uns ist das leider
ganz anders. Das muß Einen mindestens langweilen. Das Theater
braucht wie jedes organische Gebilde Ruhe, wenn es sich ent¬
wickeln soll.
Arthur Schnitzler's vier Einakter „Lebendige Stunden“
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haben mich sehr interessirt, auch die Vorstellung war im Großen gut.
Es ist mir schwer, Schnitzler's poetisches Gespinnst zu zerfasern, ich
fürchte, es bliebe zu viel an den Fingern. Ich könnte ihm wohl auch
nicht gerecht werden, ich verstehe ihn nicht immer. Doch verstehe ich
ihn genug, um seine Begabung für manche feine Stoffe zu sehen.
Aber daß es gerade ihm, dem Ueberempfindlichen, so leicht wird,
mir
Einen, ich möchte beinahe sagen, zu brutalisiren! Am beste
„Die Frau mit dem Dolche“ gefallen, in der Hauptrolle vo## ulein
Sussin hinreißend gespielt, namentlich in dem Traum=Interme# Aber,
daß Pauline „heute Abend“ „kommen“ wird, das will### trotz¬
dem nicht in den Kopf. Die Liebe, die nach Art eines ## lichen
Schnupfens wirkt, ist nicht schön. Ist sie denn in den K,, her die
Schnitzler darstellt, etwas Anderes als eine Krankheitsersc#
Und was sagt Paola nach der verhängnißvollen Nacht zu Lionardo:
„Vernahmst Du andern Laut von diesen Lippen,
Als den beklomm'nen Aufschrei wilder Lust?
Es ist nicht mehr und also war es nie!“
Die Dame ist aufrichtig, aber sehr ungerecht. Sie fühlt sich
Lionardo gegenüber ganz rein. Doch das ist vielleicht in sonderbarer
Dichterlaune erklügelt. Ich habe jedenfalls diese Gattung mensch¬
licher Spatzenliebe noch nicht beobachten können.
Paola hat auch nichts dagegen, daß sich Lionardo tödtet:
„Du willst Dich tödten? Ich bin's werth!“ Man zuckt wie
getreten oder gebissen zusammen! Der Mann soll sich tödten?!
Eigentlich käme die Sache ihr selber zu, denn sie wäre es werth,
daß sie sich tödtet. Aber so geradliniges Denken von ehedem ent¬
spricht modernem Gedankenblitz=Zickzack nicht. Uebrigens ist der Schrei
„Ich bin's werth!“ ein so infernalischer, daß man beinahe an seine
Möglichkeit glaubt.
Auch in den „letzten Masken“ ist ein verletzender Gedanke. Der
alte verunglückte Journalist hat am Todtenbette keinen höheren
Wunsch als seinem Jugendfreund, der es zu literarischer Größe ge¬
bracht hat, zu sagen, daß er ihn immer gehaßt habe, ja er will ihm
noch dauernd die Suppe ungenießbar machen, indem er ihm erzählt,
daß dessen Frau seine Geliebte war. Glimpflich entläßt uns der
letzte Einakter: „Literatur“. Aber es war zu spät. Ein angenehmer
Totaleindruck war nicht mehr herzustellen.
Die Erstaufführung des „Sturm“ von Shakespeare wurde
hier mit großem Beifalle aufgenommen. Man lobte allgemein die
großartige Inszenirung und auch die Darstellung. Auch die zweite
Aufführung fand warmen Beifall vor einem beinahe ausverkauften
Hause. Möchten doch so volle Häuser eine nicht gar so seltene Er¬
scheinung sein! Freilich müßte unser großes Publikum lernen, auch zu
kommen, wenn man ihm etwas weniger Konzessionen macht. Erst
dann werden volle Häuser eine in jeder Beziehung befriedigende Er¬
scheinung sein. Wie man einen theatralischen Erfolg macht, das weiß
unser jetziger Direktor als Praktiker sehr gut. Aber ich bin mit
seinen Mitteln nicht immer einverstanden, ich finde guch, daß er in
den Konzessionen zu weit geht. Sehr stimmungsvoll waren die
Dekorationen des zweiten und dritten Aktes, auch der szenisch so
äußerst schwierige erste Akt war theilweise gelungen. Später war mir
das Tempo zu schleppend, wie öfter, wenn der Direktor selber etwas
inszenirt. Schlecht passen die poetischen Landschaftsbilder zu den
Rüpelszenen, wenn man sie gar so behaglich ausbreitet. Fräulein
Deval und Herr de Grach haben ihre Sache sehr gut gemacht.
Leider haben auch sie zu sehr gedehnt. Boxmann war als Prospero
voll Würde. Eggeling spielte den Antonio. Gut natürlich. Ob nicht er
der richtige Darsteller des Caliban gewesen wäre? Herr Mebus spielte
diese schwierige grotesk=komische Figur. Nicht sehr glücklich. Seine Maske
war eher ekelhaft als wild und grauenhaft. Als verständiger Mann
zog er sich gut aus der Affaire. Bei Fräulein Ferron, die gewiß Vielen
als Ariel sehr gut gefallen hat, konnte man so recht sehen, wie schwierig
diese Rolle eigentlich ist. Eine einzige derbe Handbewegung, und weg ist die
Illusion vom zarten Luftgeist Ariel. Und daran scheiterte ihr Wollen.
Ich konnte leider nicht bis zum Ende der Vorstellung bleiben, aber
ich schied mit dem Bewußtsein, mir dieses sehr wohl in dem an¬
geschlagenen Style in meiner Phantasie ergänzen zu können.
Die alte Burgtheateraufführung des „Sturm“ steht mir noch
lebhaft vor Augen. E. Guglia schreibt dazu in seinem trefflichen
Mitterwurzerbuche: Gesehen im Jänner 1877. Es ist jedenfalls die¬
selbe Vorstellung gewesen, bei der auch ich war, denn so viel ich mich
erinnere, gingen wir damals meist miteinander in die Burg. Eigentlich
wundere ich mich, daß Guglia's treffliches Gedächtniß und allen
Regungen so leicht folgende Feder so wenig über Mitterwurzer's.
Caliban berichtet. Mitterwurzer, der Große, war nie größer als in
dieser Gestalt einer Künstlerlaune des größten dramatischen Dichters.
R. M.