II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 4), Literatur, Seite 51

16.4 Literatun box 22/3
Uurg, Vor0l0.
(Quellenangabe ohne Gewähr.)
WIENER ZEITUNG
Ausschnitt aus:
914
vom:
„Theater und Kunst.
(Hofburgsheater.) Das Burgtheater gab
heute einen Abend von drei Novitäten, die, so moderne
Dichternamen sie tragen, doch schon auf eine Reihe
von Jahren seit ihrer Entstehung und ersten Wiener
Vorführung zurückblicken. Gerade das erste Stück, das
Frank Wedekind auf der Hofbühne einziehen läßt,
erwies sich als das in unserer raschlebigen Zeit ver¬
altetste, zumal da für die Hauptrolle des Kammer¬
sängers in Herrn Reimers wohl ein gemütlicher
und liebenswürdiger Repräsentant, aber keineswegs
ein echt Wedekindscher Aphoristiker noch eine
interessante Individualität zur Verfügung stand.
Dagegen gab Courtelines lustiger „Boubouroche“
Herrn Treßler Gelegenheit, ein nicht genug zu
bewunderndes technisches Meisterstück zu schaffen, das
einen der genialsten Einfälle seiner reichen Kunst¬
bedeutet. Am wohlsten fühlte man sich freilich bei
dem Wiener Schwühber,— dessen übermütigen Ein¬
akter „Literatur“ Frl. Marbergs Charme und
Herrn Treßlers Drolerie zu bester Wirkung
brachten, mag auch das Parodistische und Bodenständige
des reizenden Scherzes bei beiden etwas zu kurz
gekommen sein.
A. v. JL.
Seite 11
1. Februar 1914.
Hoftheaters: „Die Maklabäer“. Abends ½7 Uhr:
„Der Reiherbusch“.
Hofburgtheater.
„Der Kammersänger“ von Frank Wedekind.
„Boubouroche“ von George Courteline.—
„Literatur“ von Arthur Schnitter.
Zur Erstaufführung am 31. Jänner 1914.
Man wird sich ihn gut merken müssen, diesen letzten
Jännertag des Jahres 1914. Ein geliebtes Theater erklärte sich
an diesem Letzten bankerott und wendete, um es uns zu be¬
weisen, seine Taschen. Da fielen drei grünspanige Hellerlein
heraus. Nun muß man es freilich glauben.
Es lag schon lange in der Luft und Eingeweihte flüsterten
sich's bedeutsam zu: Wedekind ante portas! Und nun hat man
ihn sozusagen bei Nacht und Nebel eingeschmuggelt. Wedekind
am Burgtheater? O, bitte, nur ein kleiner Einakter. Und ganz
zahm, höchst bürgerlich. Kein Anlaß zu Besorgnissen. Der Mann
ist überhaupt besser als sein Ruf. Jetzt kann man ihn gar am
Burgtheater aufführen, ohne daß es Skandal gibt.
Also, der „Kammersänger“, der gestern abend den
Tannhäuser gesungen hat (treffliches Burgtheaterorchester, wie
lieblich bereitetest Du die Stimmung mit einem „Tannhäuser“¬
Potpourri vor!), läßt eben in fliegender Hast im Hotelzimmer
seine Koffer packen, um nach einer andern Stadt zu reisen, mo
er morgen den Tristan singen soll. Höchste Bahnhofeile. Nur
mehr 24 Minuten Zeit, nach einer halben Stunde nur mehr
19 Minuten, nach einer ganzen Stunden nur mehr 2 Minuten!
Höre, Kammerdiener, ich muß noch meine Tristanrolle stu¬
dieren und bin für keinen Menschen zu sprechen, für keinen ein¬
zigen Menschen, wer immer es auch sei. Und wirf mir die Hosen
nicht so ungeschickt in den Koffer, sondern falte sie, siehst Du, so!
Ein Haufen Blumen, von entzückten Backfischen liegt mi߬
achtet auf dem Klavier und den Pack von Briefen, schmachten¬
den Liebesbriefen, soll der Teufel holen. Nun will ich rasch
den Tristan studieren... Noch ein wenig Luft hereingelassen,
den Balkonvorhang weggezogen... aber was ist denn das? Ein
blutjunges Dingerl mit einem Rosenstrauß hat sich hinter dem
Vorhang versteckt, hat sich eingeschlichen zu dem vergötterten
Sänger und ist nicht so leichten Kaufes wegzubringen, wie kost¬
bar die Kammersängerzeit auch sein mag. Wenn der Kammer¬
sänger nicht so anständig wäre, so könnte jetzt in dem Hotel¬
zimmer ewtas passie#en. Einen Kuß will sie, aber schließlich
ist sie auch mit einem Bild zufrieden. Kaum ist der Kammer¬
sänger dieser Belästigung ledig, so stürmt der alte Professor
Dühring mit seiner Opernpartitur herein. Seit acht Tagen
lauert er auf dieseen Augenblick, zwei Stunden ist er eben im
Regen auf der Gasse gestanden, ohne naß geworden zu sein, und
jetzt hat er den Kammerdiener überlistet, indem er sich auf dem
Klosett versteckte, und nun ist er da und muß dem Kammer¬
sänger seine Oper vorspielen, denn der Sänger soll diesem ver¬
kannten, unter Warten und Hoffen weiß gewordenen Mann end¬
lich dazu verhelfen, daß seine Oper aufgeführt werde. Aber der
Kammersänger hat ja keine Zeit, muß abreisen und muß doch
seinen Tristan studieren. Nützt nichts, er muß sich die Partitur
vorspielen lassen. Anstatt den Alten glatt hinauszuwerfen, er¬
gibt sich der Sänger in sein Geschick. Und nun — erschütternd
schön, rührendste Minuten dieses Abends — krächzt der Alte
sein Werk vor, findet sich selber darin nicht zurecht, nützt diese
langersehnte Viertelstunde schlecht, kläglich schlecht. Der Kam¬
mersänger ganz ungerührt, gibt ihm eine Hoffnung, sondern
will ihm Geld geben, das aber zurückgewiesen wird. Der Kam¬
mersänger, ehe er entdeckt wurde, Tapezierergehilfe, hat andere
Begriffe von der Kunst als der arme Alte. Wir Künstler,sagt
er, sind ein Luxusgegenstand für die Reichen. Das Gefühl des
Zur=Kunst=Berufenseins ist ein Unsinn. Arbeiten! Singen, wenn
man Stimme hat und schon entdeckt ist, sonst Tapetenkleben!
Aber nicht zwei Stunden im Regen auf der Gasse stehen! — Da¬
macht sich der Alte enttäuscht davon.
Neuer Auftritt. Helene hat den Kammerdiener, der ihr den
Eintritt verwehren wollte, einfach geohrfeigt und ist nun da.
Heftig erregt bestürmt sie den geliebten Sänger, sie nicht zu
verlassen, sie mitnehmen. Sie ist die schönste Frau der Stadt,
reich, Gattin eines angesehenen Mannes und Mutter zweier
Kinder. Sie kann von dem Sänger, der sie, wie hundert Frauen
vorher, in Besitz genommen hat, nicht lassen. Sie kriecht winselnd
vor ihm auf dem Fußboden herum. Vergeblich ist all sein Zu¬
reden, all sein Vorstellen, sein Erinnern an ihre Kinder. Er darf
sie nicht mitnehmen, denn in seinem Kontralte heißt es, daß er
weder heiraten, noch in Damengesellschaft reisen dürfe. Und in
ein paar Minuten geht sein Zug. Also, nur raschen Abschied. Da
schießt sie sich eine Revolverkugel in den Kopf, diese Mutter
zweier Kinder. Der Kammerdiener schreit nach einem Schutz¬
mann, der ihn verhaften möge, damit er vis major nachweisen
könne, denn nur eine solche kann ihn vor dem Vorwurfe des
Kontraktbruches retten. Vorhang.
Der Kammersänger ist das tragikomischeste Bild eines von
fremden Eigennützigkeiten bedrängten Künstlers. Eine Ster¬
bende hört einen Witz und ein sonst immer pünktlicher Sänger
versäumt zu guter letzt doch noch seinen Zug. Unzulänglichkeiten
überall im Leben. Man soll nicht damit rechnen, jemals seinen
Zug zu erreichen, und zwei Kinder sollen nicht allzu sicher dar¬
auf hoffen, ihre Mutter zu behalten.
Gräßlich ist es immer wieder, zu sehen, wie wenig dieser
Dichter an das Leben glaubt. Aber gräßlicher noch, wie sehr er
uns um unseren Glauben an das Leben beneidet.
verlänger und stattele ihn