II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 235

14. Der Schleier der Beatrige
teuern, und enttäuscht kehrt Bertha in ihren engen Philisterkreis
im kleinen Landstädtchen zurück, während ihre Freundin sich ver¬
giftet, um den eingetretenen Folgen ihrer Liebesabenteuer zu ent¬
gehen. Wir wüssten dem Dichter Dank, wenn er seinen Roman nicht
mit einem gar zu normal=physiologischen Vorgang abgeschlossen
hätte, wenn wir auch seine ironische Absicht dabei ganz gut ver¬
stehen. Frau Garlan, die zu gerne das hohe Meer der Leiden¬
schaften befahren möchte, hat so gar nichts vom Uebermenschen an
sich. Humorvoll lächelnd blickt der Dichter seiner armen Heldin über
die Schulter und weiß doch unsere Theilnahme für das arme,
thörichte Hascherl zu wecken. Der Humor, der über dem ganzen
schwebt, unterscheidet den im einzelnen so wirklichkeitstreuen Roman
doch wieder von den meisten naturalistischen Erzeugnissen.
Die scharfumrissenen Augenblicksbilder des „Anatol“, „Liebelei“
und „Freiwild“ haben zur Genüge gezeigt, dass Schnitzler es mit
den Vertretern des naturalistischen Dramas in Deutschland wohl
aufnehmen kann, während im „Vermächtnis“ Anklänge an die
Rührscenen des älteren Wiener Volksstückes nachwirkten. Allein die
Kinderjahre des „jüngsten Deutschlands“, in denen dem zielbewussten
Dramatiker nur die Gegenwart in Hinter= und Vorderhaus Stoff
bieten konnte, sind schon seit einiger Zeit vorüber. Gerhart Haupt¬
mann hat im „Florian Geyer“ eine unglückliche, Sudermann im
„Johannes“ eine erfolgreiche Liebe für das einstens todtgesagte und
todtgewünschte historische Drama bethätigt. Schnitzler selbst schweifte
bereits im „Paracelsus“ und dem „Grünen Kakadu“ zurück ins
sechzehnte Jahrhundert und in die Tage des Bastillensturmes. Aber
trotz dieser beiden Einacter musste sein neuestes Drama „Der
Schleier der Beatrice“ überraschen. Hier war ihm ein großer,
kühner Wurf voll und ganz gelungen. Gerade weil ich als Augen¬
zeuge dem Misslingen des Werkes auf der Bühne beigewohnt habe,
darf ich das behaupten. Nicht das Werk des Dichters, sondern ganz
einseitig die Aufführung trug die Schuld an dem Falle des Werkes.
Schnitzlers Drama mit seinem berauschenden Renaissancefeste im
Schlosse des Herzogs von Bologna erfordert die höchste Pracht der
Ausstattung. Im Schauspiele der „Vereinigten Breslauer Theater“
herrscht eine Sparsamkeit, dass auch das unbedingt Nothwendigste
der Ausstattung nicht hergestellt wird, und eine so unerschütterliche
Gleichgiltigkeit gegen die Tragödie, dass selbst das Vorhandene nur
der Oper vorbehalten bleibt. Noch schlimmer aber war es, dass für
die Rolle der Beatrice, mit der das Stück steht und fällt, nicht
eine von den beiden, zwar auch nicht passenden, doch immerhin noch
möglichen Darstellerinnen gewählt wurde, sondern eine Schau¬
spielerin, die von vornherein als Beatrice undenkbar war. Aber
auch sonst gute, ja ausgezeichnete Kräfte versagten infolge einer
gänzlich unfähigen Regie an jenem Unglücksabend derart, dass man
Zutrauen zu dem Werke gewinnen musste, welches selbst durch eine
solche unverantwortliche Misshandlung nicht in allen Seenen zu¬
grunde gerichtet werden konnte.
Ein psychologisches Problem steht auch hier im Mittelpunkte.
Der kluge und lebenskräftige Herzog Bentivoglio selbst fragt an der
Leiche des Dichters Filippo Loschi erschüttert:
Was bist du für ein Wesen, Beatrice?...
Warst du nicht, Beatrice, nur ein Kind,
Das mit der Krone spielte, weil sie glänzte,
Mit eines Dichters Seel', weil sie voll Räthsel,
Mit eines Jünglings Herzen, weil's dir just
Geschenkt war . . . So nannten wir dein Thun
— und du warst ein Kind!“
Betrug und Frevel
Wir dürfen vielleicht eher sagen, seelenlos wie eine Undine
erscheint uns die sechzehnjährige Tochter des verrückten Vaters und
der buhlerischen Mutter. Widerstandslos als ein echtes Naturkind,
jenseits von gut und bös, gibt sie sich instinctiv ohne jede Rechen¬
schaft dem jeweiligen Eindrucke hin. Die phantasievollen Reden des
Dichters und die ernsten Ermahnungen des Bruders, der Glanz der
Herzogskrone, von Bolognas schönstem Manne ihr geboten, und die
Erinnerung an Loschis glühende Zärtlichkeit beherrschen sie jeweils
so vollständig, dass sie, ohne an anderes zu denken, sich rückhaltlos
dem reinen Eindruck hingibt. So handelt dies rein sinnliche Wesen
stets wie im Halbschlaf, bis sie endlich, von dem Herzog an Loschis
Leiche gezerrt, zu spät zu eigener Seelenthätigkeit erwacht. Es ist
ein wunderbarer Charakter, den Schnitzler in diesem Kinde geschaffen
hat und mit ebensoviel Phantasie als dramatischer Technik hat er
um Beatrice den Schleier seiner Handlung gewoben. In eine ein¬
zige Nacht hat er die Shakespeare'sche Fülle seiner poetischen Gefühle
zusammengedrängt. Cäsare Borgias im Jahre 1501 vergeblich unter¬
nommener Anschlag auf das von Bentivoglios beherrschte Bologna bot
Schnitzler die schmale geschichtliche Grundlage, auf der er sein leben¬
sprühendes Drama aufbaute. Wie ein Weltuntergang droht den von
Borgias und Neapels Scharen eingeschlossenen Bewohnern Bolognas
vom Herzog bis zum letzten Krämer herab der nächste Morgen, und um¬
glühender will in dieser letzten Nacht die Lebenslust aufflammen.
Es sind die Sommertage der Renaissance, die Zeit jener gewaltigen
Kraftnaturen, wirklichen Uebermenschen, die in Kunst und Liebe,
Hass und Machtgier stets bis ans äußerste gehen. Noch im
Niedergange jener großen Geschichtsepoche sehen wir es in Benvenuto
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Cellinis Lebensschilderung, die kein Geringerer als Goethe seiner
Uebersetzerthätigkeit wert achtete, von welch blinder Macht der
Leidenschaft jene italienischen Künstler und Tyrannen, Frauen und
Päpste des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts in jähem
Lebensdrang dämonisch hingerissen wurden. Solch Wirbelwind all¬
verzehrenden Verlangens hat auch den Dichter Filippo Loschi beim
ersten Anblick der sechzehnjährigen Beatrice Nardi ergriffen. Freund¬
schaft und Vaterstadt, die Ehrenpflicht gegen seine edle Braut, ja
selbst seine geliebte Kunst, alles will er verrathen, um mit jenem
Kinde zu fliehen, zu leben, zu leben! Nicht die wirkliche Beatrice
Nardi liebt er aber, sondern das Geschöpf, zu dem er selber sie um¬
gedichtet hat. Filippo ist der Phantasiemensch, der Dichter, der nicht
das wirklich Vorhandene sieht, sondern je nach der Stimmung des
Augenblicks die Wirklichkeit mit seiner Einbildungskraft umschafft.
Allein eben weil er um die gemeine Wirklichkeit der Dinge zauber¬
gleich den Goldglanz der Dichtung zu weben weiß, wirkt Filippo
auf alle, die sich ihm genaht, so unwiderstehlich hinreißend, dass sie
ihn nie mehr vergessen können. Der Herzog ist von seinem Leid
ergriffen, und dem kühnen Grafen Andrea Fantuzzi sinkt das Schwert,
das er gegen den an seiner Schwester Frevelnden erheben sollte.
Die florentinische Courtisane will nach ihm keinem andern mehr
gehören, und Beatrice, die er von sich gestoßen, stiehlt sich als des
Herzogs Braut aus dem Palaste, um noch einmal an Filippos
Worten sich zu berauschen. Er hatte die Geliebte fortgestoßen, weil
sie durch Erzählung ihres ehrgeizigen Traumes, ohne es auch nur zu
ahnen, dass sie Uebles that, ihm sein Phantasiebild befleckt, vernichtet
hat. Nun ist der Traum Wahrheit geworden, als des Herzogs ehe¬
liches Gemahl hat sie die Burg der Bentivoglios betreten. So steht
das Kind zwischen dem Dichter und dem kraftvoll in der Wirklich¬
keit wurzelnden edlen Fürsten. Filippo flieht freiwillig aus der
Welt, die ihm nicht an das Maß seiner Phantasie zu reichen
scheint; der Herzog will vor dem drohenden Schlachtenmorgen für
sich und ganz Bologna das Leben in Schönheit noch in ungezügeltem,
maßlosem Verlangen genießen. So hat er sich die schönste Tochter
des auf seine schönen Töchter so stolzen Bolognas angetraut für
diese eine Nacht, ehe das Schwert des Borgias dem nach Leben
und Genuss Dürstenden für immer allen Durst stillen soll. „Das
Leben ist die Fülle, nicht die Zeit.“ mit dem Rufe zieht er eher
befriedigt als klagend zum letzten Kampf aus. Allein selbst dieser
fürstliche Uebermensch vermag Beatrice nicht zu wecken; von ihm
flieht sie zu ihrem Dichter und findet doch wieder nicht den Muth,
mit ihm zu sterben, um dann endlich an seiner Leiche die Ruhe im
Tode zu finden.
Ein gewaltiger Shakespeare'scher Zug geht durch das ganze
von Kraft und Leben glühende Werk. Man wird nicht ängstlich
abwägen, ob der Dichter nicht doch etwas viel in die eine Nacht
gepresst hat. Nicht um Boileau'sche Einheit der Zeit war es ihm
zu thun, sondern gerade aus der drängenden Enge der Zeit wollte
er das Uebermaß des Lebensbegehrens hervorglühen lassen.
Vielleicht hätte eine düstere Lagerscene in Borgias Zelt, die
uns die dämonische Macht des Fürchterlichen und Unerbittlichen
unmittelbar, nicht bloß aus den Schreckenskunden der Bologneser
Bürger vorgeführt hätte, die Wirkung noch erhöht. Aber auch so
wie das Werk nun im Drucke vorliegt, erscheint es als eine der
bedeutendsten dramatischen Schöpfungen, welche die letzten Jahre in
deutscher Sprache entstehen ließen.
Max Koch.
Breslau.
Willy.
Kenry Gauthier=Villars, Willy und LOuvreuse,
—0 das sind drei Namen für den gleichen Schriftsteller. Der erste!
ist der wirkliche Name, den man auf historischen Monographien und
unter den ernsthaften musikalischen Kritiken des „Echo de Paris“
und der „Revue Universelle“ liest. Das Pseudonym Willy diente
zuerst für kleine Humoresken und seit einigen Jahren für satirische
Romane deren bis heute vier vorliegen, „Maitresse d'Esthete“, „Un
vilain Monsieur", „Claudine à l'Ecole“ und „Claudine à Paris“.
L'Ouvreuse endlich ist das Pseudonym des Pseudonyms. Gauthier¬
Villars, der schon damals Willy hieß, nahm es vor etwa fünfzehn
Jahren an, als Lamoureux seine Concerte im Sommercireus abhielt
und er in „L'Art et la Vie“ einer ephemeren Zeitschrift jugend¬
licher Literaten, darüber Bericht erstattete. Er hüllte sich dabei in
den Mantel eines doppelten Pseudonyms, weil er nicht nur die
Musiker, sondern auch das Publicum einer scharfen und ziemlich
indiscreten Kritik unterzog. Diese Kritik war und ist auch heute
noch, wo sie Gauthier=Villars in den Concertberichten des „Echo de
Paris“ fortsetzt, so persönlich als möglich, aber sie ist nicht ver¬
letzend, weil sie mit übermüthigem Humor und einem erstaunlichen
Aufwand von Wortspielen gewürzt ist und schließlich doch auf
wirklicher Sachkenntnis beruht. Die Maske der Logenschließerin des
Sommercircus (dies ist der Sinn des Pseudonyms) wurde zu soviel
boshafter Klatscherei ausgenutzt, dass viele Leute anfangs darauf
schwuren, die Oupreuse sei zwar viel zu gebildet, um wirklich mit