II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 249

14. Der Schleier der Beatrice
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Notizen und Besprechungen.
erfüllt; aber da sie vernahmen, daß vielleicht schon morgen unsere geliebte
Stadt an allen vier Ecken in Flammen aufgehen wird“ ... u. s. w.
Oder eine andere Stelle, an der ein gewisser Capponi, seines Zeichens
Gewürzhändler, spricht: „Was fällt Euch ein! Daß ich seufze, ist eine
Angewohnheit, eine üble Angewohnheit, wenn Ihr wollt, oder auch eine
philosophische Angewohnheit. Aber, um auf das Rosenwasser zurückzu¬
kommen, so könnte es immerhin auch das persische gewesen sein.“ Kann
man Shakespeare's Ausdrucksweise treuer kopiren? Auch der Herzog er¬
innert an Shakespeare, wenn er zu Beatrice spricht:
„Ich bin bereit, so gänzlich zu verzeih'n,
Daß Du als Herzogin rückkehrst in's Schloß,
Wär's auch von einem höchst verruchten Ort.“
Man beachte das „höchst verruchten Ort“
Der Schluß des ganzen Dramas ist vollkommen im Stile Shakespeare's
gehalten. Wie bei dem englischen Dichter dem todten Helden gewöhnlich
ein ehrender Nachruf von dem überlebenden zu Theil wird, so läßt auch
Schnitzler den Herzog an Filippo's Bahre also sprechen:
Euch aber, denen diese Stadt vertraut ist,
Bis And're kommen, nicht mehr ich und die,
Trag' ich die Sorge auf, im ersten Glüh'n
Der Morgensonne, die zum Abschied grüßt,
Den Leichnam dieses sehr geliebtes Dichters
Im Grab des Bentivoglio zu bestatten.
Und diese?) hier wie ihn! Die Spanne Zeit,
Die sie um's Licht des Lebens noch geflattert,
Bedeutet jetzt nichts mehr, sie starb mit ihm.
Er liebte sie, er sturb, weil er sie liebte,
So ist sie hochgeehrt vor allen Frau'n!
Dem Wiener Dichter wäre ein in hohem Maße Shakespeare'sches
Werk gelungen, wenn seinen Figuren nicht gerade das fehlte, was die
Gestalten des Briten an Uebermaß besitzen: Blut und Leben. —
In dem Roman „Frau Bertha Garlan“ hat Schnitzler ein seiner
würdiges, in seiner Art vollendetes, feines und vornehmes Kunstwerk ge¬
schaffen. Die Objektivität und Plastik der Darstellung kann kaum über¬
troffen werden. Frau Bertha Garlan ist eine Dame, die ohne Liebe
geheirathet und sehr früh ohne übergroßen Gram Wittwe geworden ist.
So hat sie wohl einen kleinen, lieben Sohn, tennt aber die Liebe nicht.
Es liegt etwas Rührendes und Komisches zugleich über dieser Frauengestalt,
die mit großer Treue erfaßt und dargestellt ist. Bewunderswerth ist die
Komposition des Romans. Frau Bertha Garlan steht in der Mitte. Sie
lernen wir zuerst kennen, bis in's Innerste. Um sie gruppiren sich alle
*) Die todte, von ihrem Bruder erstochene Beatrice nämlich.
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Notizen und Besprechungen.
anderen Gestalten in Abstufungen, und je weiter sie von Frau Bertha
entfernt stehen, um so weniger Licht fällt auf sie. Am wenigsten wissen
wir von dem großen Violinvirtnosen, der durch eine Welt von Frau
Bertha getrennt ist, obwohl ein Abend oder eine halbe Nacht sie äußerlich
recht nahe bringen. Noch nie hat ein Roman auf mich in seiner Kom¬
position so sehr den Eindruck des Bildhaften gemacht, den Eindruck, ein
Lebensgemälde zu sein.
„Leutnant Gustl“ ist eine ganz nette Harmlosigkeit, harmlos auch
dann, wenn der Antor das Werkchen etwa satyrisch gemeint haben sollte.
Das Publikum hat viel Gefallen daran gefunden; denn es liegt schon die
Max Lorenz.
vierte Auflage vor.
Das tägliche Brod. Roman in zwei Bänden von C. Viebig. Verlag
von F. Fontane & Co., Berlin 1901.
Dieser Roman ist ein gutes Exemplar seiner Art, nämlich des sozialen
Romans. Daß die soziale Dichtung in ästhetischer Beziehung am höchsten
steht, glaube ich nicht. Maupassant's Novellen verdienen den Vorzug vor
Zola's Romauen. Der soziale Roman kann selten Anspruch erheben, als
Kunstwerk noch die Herzen künftiger Generationen zu ergreifen. Dafür
aber ist sein Gegenwartswerth recht hoch anzuschlagen. Dieser Werth ist
nicht allein, vielleicht nicht einmal in erster Linie, rein künstlerischer Natur.
Mehr als der Kunstfreund kann der Sozialpolitiker Interesse an dieser
Kunstgattung nehmen. Der soziale Roman bietet etwas, was die wissen¬
schaftliche volkswirthschaftliche Studie nicht zu geben vermag. Diese giebt
genaue Darstellung der Verhältnisse und ihrer Veränderlichkeit; sie zeigt,
wie Dinge und Menschen sich mit einander verschieben. Sie behandelt
aber auch die Menschen in der Hauptsache wie Dinge. Der sozialpolitische
Roman vermag über dieses kalte Dingliche hinauszugehen und lebendige
Menschen mit Leib und Seele im Fluß des Lebens und der Verhältnisse
dentlich vor Augen zu stellen. Frau Viebig's Roman ist eine Dienstboten¬
geschichte. Der Sozialpolitiker behandelt das in Hinsicht auf Lohn, Kost,
Behandlung, Wohnung, Häufigkeit des Dienstwechsels, Gesindeordnung u. s. w.
Die Klarstellung aller dieser Gesichtspunkte vermittelt einen wirklich
deutlichen Eindruck doch nicht. Wir kommen über äußeres Wissen nicht
hinaus. Zu innerem Verstehen vermag uns der Dichter zu führen, indem
er an Stelle des abstrakten Materials den konkreten Fall vorführt: das
Schicksal des Dienstmädchens, wie es vom Lande nach Berlin kommt und
hier aus einem Hause ins andere geräth. Clara Viebig verdient das Lob,
ihren Gegenstand mit lebhaftestem Mitempfinden, scharf eindringlichem
Verständniß, großer Objektivität und vollkommener dichterischer Gestaltungs¬
Max Lorenz.
kraft behandelt zu haben.