II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 264

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dürfte also vielen unserer Leser noch in Erinnerung sein.] flammenden Patriotismus kennt, durch den sich die Bür
ger italienischer Städte im Mittelalter wie in der Neu¬
Das Poetische an dieser Touristennovelle ist, daß der
zeit immer rühmlich ausgezeichnet haben, wer weiß, daß
Verfasser die Wanderung an der Seite einer ihm, dem
auch ihnen, wie den alten Griechen ihre „Polis“, ihre
Junggesellen, von ihren Eltern in merkwürdiger Ver¬
Stadt, alles war und jedes Opfers wert, der wird selbst
trauensseligkeit zugesellten schönen jungen Australierin
wenn damals ein so dekadenter Fürst wie dieser Benti¬
macht und des in ihn gesetzten Vertrauens sich würdig
voglio denkbar gewesen wäre, doch niemals glauben, daß
erweist, wenn es dabei auch nicht ohne Selbstüberwin¬
der Herzog die ganze Stadt zu solchem unwürdigen Sich¬
dung abgehen mochte. Es kommt ja zu einem unschuldigen
selbstaufgeben hätte hinreißen können. Vergesse man doch
Kusse, damit hat es aber auch sein Bewenden. „Etta“
überhaupt nicht, daß gerade die Italiener des Quattro¬
ist, in der zweiten Hälfte der Erzählung, als Novelle
und Cinquecento bei allem furiosen Temperament der
verfehlt, obschon auch hier die Schilderungen von Natur
Rasse ihr eiserner Verstand auszeichnet der sie mitten
und Landleuten im Wallis sehr hübsch sind. Auch das
in leidenschaftlichen Momenten und gefährlicher Lage zur
Hauptmotiv wäre ein recht lustiges: Eine Pensionsvor¬
kühlsten Berechnung aller Umstände befähigte. Aus diesem
steherin muß im Gasthof zwei ihrer Pensionärinnen als
Grunde scheint mir „Der Schleier der Beatrice“ kein
Geiseln zurücklassen, weil sie unterwegs ihr Geldtäschchen
glaubhaftes Renaissancestück. Die Voraussetzungen der
verloren hat und nicht bezahlen kann. Aber nun knüpft
Handlung und auch der Charaktere und ebenso die Si¬
sich hieran eine Liebesgeschichte zwischen den beiden
tuationen sind märchenhaft.
Mädchen und einem etwas phlegmatischen Berner, die so,
wie die Charaktere angelegt sind, durchaus eine richtige
Diese Bemerkung trifft jedoch nicht das Herz des
novellistische Entwicklung verlangt hätte. Man darf solche
Dramas, den dichterischen Kern. Der Dichter durfte sich
Konflikte psychologischer Natur nicht bloß antupfen und
eine Welt zurechtmachen, in der die Menschen und die
sie dann mit trockener Berichterstattung abthun, statt sie
Dinge im märchenhaften Sinn möglich waren, die seine
gehörig durchzuführen. Da hilft auch die im Vorwort
Phantasie und sein Gefühl beschäftigten. Und wenn der
vorausgenommene Entschuldigung nicht, man erhebe keinen
Leser fragt, was das für Menschen und Dinge sind, so
Anspruch auf litterarischen Wert. Dem Leser bleibt ein
lautet die Antwort: die nackte Psyche des Menschen in
Mißbehagen zurück, das dadurch noch gesteigert wird, daß
ihrem Verhältnis zur Liebe. Und so sehen wir Schnitzler
der Verfasser ihn zuletzt mit einer Verlobungsanzeige
doch eigentlich wieder auf dem Gebiet sich bewegen und
überrumpelt, auf die man, weil sie gar nicht vorbereitet
mit den Problemen sich beschäftigen, die ihn bei all
war, vernünftigerweise nicht gefaßt sein konnte und die
seinem sonstigen Schaffen von jeher allein interessiert
daher nur den Eindruck eines possenhaften Scherzes macht.
haben. Er zeigt, daß die Liebe die unerbittliche Herrin
Wie reizvoll hätte sich bei etwas mehr Vertiefung in
des Herzens ist, dessen sie sich bemächtigt; je größer
den Stoff der Gegensatz zwischen der rassigen jungen
und stolzer dieses Herz, desto gewaltiger in ihm herr¬
Ungarin und dem schwerbeweglichen, dem Ehejoch abge¬
schend. Aber er zeigt auch, daß diese Tyrannin zugleich
neigten Berner Kaufmann zu einer richtigen Novelle ent¬
die subtilste, verletzlichste aller menschlichen Empfindungen
wick ln lassen! Interessant ist das vom Verfasser einge¬
ist, die bei Edelnaturen schon durch einen Hauch Trübung
flochtene Gedicht von Reithard über Walliser Gespenster¬
und Zerstörung erfährt.
sagen. Nur unterbricht es den Verlauf der Erzählung zu
In der Person des Dichters Filippo Loschi tritt dies
lange.
in Anschauung Er war verlobt mit der edeln Schwester
seines Freundes, des Grafen Andrea Fantuzzi. Bei einem
Der Schleier der Beatrice. Schauspiel von
Volksfeste hat er das einfache Bürgermädchen, die sechs¬
Arthur Schnitzler. (Berlin S. Fischer 1901.) Auch¬
zehnjährige Beatrice Nardi gesehen. Ein Blick — und
Schnitzler, der Dichter so durchaus moderner und erfolg¬
sein Schicksal ist entschieden. In dem Moment, da seine
reicher Problemstücke wie „Liebelei“ „Freiwild“, und
Braut #resina ihre Mutter durch den Tod verloren hat
so naturalistischer gesellschaftlicher Satiren wie „Anatol“,
und verdoppelte Schonung verdiente, verläßt er sie, opfert
hat die Sehnsucht nach Romantik oder — sagen wir
die Freundschaft mit dem Bruder, die Achtung seiner
lieber — nach der Phantasieheimat reiner Poesie nicht
besten Kameraden — eines Bildhauers und eines Musi¬
unterdrücken können und ein fünfaktiges Schauspiel ge¬
— und kann nur noch Beatrice lieben, die er in
kers
schrieben, das angeblich in der italienischen Renaissance,
dem Garten seiner Villa erwartet. Als das schöne Mäd¬
wirklich in der traumhaften Märchenwelt dichterischer
chen nun kommt, erzählt sie ihm ahnungslos den Traum
Einbildungskraft und Stimmung spielt.
der vorigen Nacht: Daß der Herzog sie auf der Straße
Das nämlich muß gleich festgestellt werden, daß auch

dies war nicht bloß Traum, sondern
gesehen habe,
im Cinquecento die Menschen in Italien sich nicht so
hatte sich wirklich zugetragen — und daß er sie zu sich
jenseits des gesunden Hausverstandes aufführten, wie es
aufs Schloß gerufen und, in heißer Lieb' entbrannt, zu
in Schnitzlers heißblütigem Drama geschieht. Ja, wenn
seiner rechtmäßigen Gemahlin gemacht habe. Sobald
die Professoren in ihren kulturgeschichtlichen Schilderun¬
Bratrice diese Traum-Untreue herausgeplaudert hat, ist
gen die außerordentlichen Menschen und Thaten zweier
es mit der Liebe des Dichters zu ihr aus. Er bedenkt
Jahrhunderte italienischer Geschichte zusammentragen,
nicht die furchtbaren Opfer, die er soehen seiner neuen
dann allerdings entsteht beim Leser der Eindruck, als
Leidenschaft gebracht hat, und weist das Mädchen von der
hätten damals nur grenzenlose Leidenschaften und neben
Schwelle seines Hauses weg.
schrecklichen Gewaltthaten ewiger Festestaumel, die Be¬
In derselben Nacht (das ganze Stück spielt vom
rauschung aus dem Kelch der schönen Künste und des
Abend bis zum grauenden Morgen des nächsten Tages)
Sinnengenusses, die italienische Welt beherrscht. Aber
wird Beatricens Traum wahr. Das alles hier zu er¬
dieses Bild wird falsch, wenn man den Einzelfall eines
zählen, wäre zu weitführend. Der Herzog benimmt sich
bestimmten Ereignisses ganz nur in diese Schablone hin¬
ungefähr wie der spanische König in Grillparzers „Die
ein zeichnet. In Schnitzlers Stück ist Cesare Borgia vor
Jüdin von Toledo“, Beatricens Schicksal erfüllt sich da¬
Bologna gerückt. In der sichern Voraussetzung nun, daß
durch, daß sie, nachdem sie bereits im Dom von San
gegen den kriegsmächtigen Valentino zu kämpfen doch
Petronio die Gemahlin des Herzogs geworden ist, in
nutzlos sei, überlassen sich sowohl Bentivoglio, der Her¬
einer Anwandlung von neu erwachter Liebe zu dem Dichter
zog von Bologna, wie seine Hofherren und auch die Bür¬
Loschi zurückkehrt, von ihm jedoch abermals fortgeschickt
ger der Stadt einer tollen Orgie des Lebensgenusses,
wird, dabei den köstlichen Schleier zurückläßt, den ihr der
etwa so, wie es zu Zeiten geschehen sein soll, wenn gänz¬
Herzog geschenkt hatte. Der Schleier verrät, wo sie einen
lich unwissende Menschen den Untergang der Welt für
Teil der Nacht zugebracht hat. Der Herzog selbst zwingt
den nächsten Tag erwarteten und noch einmal die Freu¬
den des Lebens recht auskosten wollten. Wer aber den sie, in seiner Begleitung den Schleier im Hause des
aud