II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 448

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14. Der Schleier der Beatrice
Kunstberichte.
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feine geistige Organe verlangte. Die so gegebene Blöße unserer Zeitgenossen
soll uns indessen nicht hindern, diesen unbequemen Schleier aufmerksam zu
betrachten.
„Hak's nicht der Vater uns gar oft erzählt? Von einem, der den
Kopf ins Wasser tauchte, und träumte da von so viel Abenteuern, daß sie
im Wachen zwanzig Jahre währten, — Und taucht' empor, da war's ein
Augenblick.“ So spricht Beatrice, die Tochter des geistesgestörten Wappen¬
schneiders zu Bologna. Und in diesem Märchen ist des Schauspiels Wesen
selber erzählt, es scheint, als sei der Dichter jener „Eine“, der in einem
einzigen Traum, einem wildbunten Renaissancetraum eine Fülle der Ge¬
sichte erlebt, „daß sie im Wachen zwanzig Jahre währten — und taucht
empor, da war's ein Augenblick.“
In Bologna, der Stadt und Stätte alter Kullur geht es wild und
stürmisch her wie niemals noch. Vor den Toren steht Cesare Borgia, des
furchtbaren Alexander fürchterlicher Sohn. Die stählernen Klammern seines
Heeres schließen sich um der Etruskerstadt betagte Mauern, die morgen
schon, vielleicht im ersten Ansturm fallen werden. Das sind eilige, rasende
Stunden —: Verzweifeln und Begehren, Todesbangen und aufbäumende
Lebenslust wechseln und folgen einander so jäh wie Blitz und Donner.
Bürgersöhne und Edle, Männer und Knaben haben ihre Klingen geschliffen,
ihre Rüstungen gerüstet für den Kampf der Entscheidung. Und gleich als
ginge morgen die Welt unter, kobt heute allerorten, in jeder Brust ein
wahnsinniges Verlangen, die Neige der letzten Stunden in einem einzigen
berauschenden Zuge auszukosten, Anendlichkeit in die kurze Spanne bis zum
Morgenrot zu pressen. Wie ein Gluthauch weht es durch die Stadt. Ein
einziger großer Brunstschrei hallt zu den ewigen Sternen hinauf. Wunder¬
voll ist diese trunkene Lust, die gleichsam schon dem Leben entrückt, über
ihm schwebt, vom Dichter gemalt. In den leuchtenden Farben der alten
Meister ist hier die Renaissance geschildert, die wilde, lebenschlürfende, tod¬
verachtende Zeit mit ihren stolzen Männern und wundersamen Frauen.
Nur einer ahnt hinter den hohen Mauern seines Gartens und seiner Seelen¬
einsamkeit nichts davon, daß die Welt rings in Flammen steht. Ein Doet
ist's, Filippo, der eingesponnen in seine Träume und in die Liebe zur sechzehn¬
jährigen Beatrice, Zeit und Welt vergessen hat. ... Aber Zeit und Welt
rächen sich, wenn wir sie vergessen, sie wissen auf geheimnisvolle Weise,
auf Wegen des Traumes an unsere Sinne zu schleichen und sie zu berücken.
Arglos erzählt das blühende Mädchen dem Geliebten: sie hat geträumt, sie
wäre Herzogin, und mit einem brennenden Kuß des jungen Herzogs auf
ihren Lippen ist sie erwacht. Lachend erzählt sie's, aber der Geliebte lacht
nicht. Mit furchtbarem Ernst fragt er sie: „And so kommst du zu mir ...
als Dirne deines Traums? Kommst so beschmutzt hier her?“ Träume sind
ihm, dem idealen Schwärmer, Begierden ohne Mut, freche Wünsche, die
vom Licht des Tages in die Winkel unserer Seele zurückgejagt, die bei Nacht
erst auszukriechen wagen: — „Geh, Beatrice! Graun vor dir hat mich er¬
Sie geht. Ohne ihn zu verstehen. Geht und — reicht die
faßt.“
Hand einem braven Handwerksknaben, der lange schon um sie wirbt zur
Vermählung. Schon schreitet das Paar zur Kirche, da begegnet ihnen der
junge Herzog, der auf der Suche nach der Begehrenswertesten für diese
letzte Nacht, Beatrice nun in trunkener Laune freit. Wie im Traume folgt
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