II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 451

14. Der Schleier der Beatrige box 20/4
Theater.
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und Motive hineingewebt, es fehlt das Rückgrat eines aufrechten dramati¬
schen Willens. Im einzelnen wird unser Genuß an den schönen Versen
nur selten gestört, so durch das aufdringliche Zugeständnis an die Ver¬
erbungsschnüffler: daß die Mutter der Beatrice als ein schlechtes Weib,
der Vater als irrsinnig geschildert wird, eine Aberflüssigkeit, die dem Sinn
des Dramas, wenn man tiefer hinlauscht, widerspricht. Gleichviel: wir
haben es hier mit einer feinen, sehr bedeutenden Dichtung zu tun, die
namentlich mit der gewaltigen Erhebung des tragischen Tones im letzten
Akt einen tiefen Eindruck hinterläßt, und wenn nicht als Bühnenwerk, so
doch als Buch, als Gedankenfreund im Hause ein bleibender Schatz der
deutschen Literatur ist, „rein und fein, dem Edelsteine gleich, bestraolt von
den Tugenden einer Welt, welche noch nicht da ist.“
Es ist ein sehr bemerkenswerter Zug im literarischen Weben unserer
Tage, daß zu einer ähnlichen Auffassung der Weibes= und Menschheit¬
sendung wie Schnitzler im Schleier der Beakrice ein anderer der wenigen
Ragenden unter den gegenwärtigen Dramatikern gekommen ist, freilich auf
ganz anderen Wegen nach Sonderheit seiner Beanlagung: Maeterlinck in
seiner Dichtung „Pelleas und Melisande“. Die beiden Dichter, die
hier das Rätselhafte, Traumhafte, Anbewußte in der weiblichen Psyche
schildern, haben ohnehin viel Gemeinsames, man sieht es nur nicht auf den
ersten Blick, weil sie sich eben auf dem Grunde ihrer Dichtungen begegnen.
Der Kumpf zwischen Todesangst und Liebe ist eines der Grundmotive aller
Schnitzlerschen Werke. Und Maeterlinck singt uns in fast allen seinen
Dichtungen das eine Lied: daß wir Menschlein an den grausamen und un¬
beugsamen Spielen, die Tod und Liebe mit den Lebenden spielen, nichts
ändern können ... Auch in „Delleas und Melisande“ ist dies das große
klagende Leitmotiv, das wie der stete dumpfbrausende Orgelton des hinter
der Szene brandenden Meeres die Dichtung von der ersten bis zur letzten
Zeile begleitet.
Das Drama ist 1892 entstanden und obwohl inzwischen hie und da
gelegentlich aufgeführt, ist es doch in diesem Winter erst zu seiner vollen
dramatischen Bedeutung gelungt, dank einer außerordentlich feinsinnigen
Inszenierung, die Max Reinhardt, der jetzige Direktor des Neuen Theaters
unter Mitarbeit der Maler Louis Corinth und Leo Impekoven mit
glänzendem künstlerischem Erfolg ins Werk setzte. Elf Jahre hat also dies
Drama eines bekannten Dichters auf Verständnis eines Bühnenleiters
warten müssen — ein beschämender Beweis für die Tatsache, daß wir mit
kaum einer Ausnahme Geschäftsbühnen statt Kunstbühnen haben. Elf Jahre
und das wunderliche Schicksal will es, daß gerade jetzt, wo diese alte
Dichtung zu neuen. Leben erwacht, ihr Dichter selber, fortschreitend mit den
Lustren, auf einem anderen Pol seiner Kunst angelangt ist und beinahe auf
dem Punkte steht, sie zu verleugnen. In der Vorrede zur neuen Gesamt¬
ausgabe seiner dramatischen Werke, die Herr von Oppeln=Bronikowski
besorgt hat (Leipzig, E. Diederichs), sagt Maeterlinck mit einem Rück¬
blick auf seine früheren Dramen, Pelleas und Melisande eingeschlossen:
heute scheint mir das alles nicht mehr hinreichend ... Es ist
dem Lyriker vielleicht erlaubt, etwas wie ein Theoretiker des Anbekannten