II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 586

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Beatrice
14: Der Schleier der
nie können sie ihre nächtlichen Visionen im Glanz und
Schimmer vor sich erstehen sehen, nie wird ihnen der einzige
Lohn zutheil, der dem Genius gebürt: die Freude des Schenkens.
Weil sie ohne Licht verkümmern und so viel geistige Werke nutzlos
verloren gehen, deshalb ist gegen das Publicum jeder Stachel,
gegen die Directoren und Kritiker jeder Hohn, gegen die Stücke¬
händler jeder Hass und jede Verachtung geboten und nützlich. Es
wäre sonst wahrlich gleichgiltig, ob sich einer von ihnen anstatt
als Kohlenagent oder Tuchhändler mit Tantièmen sein Brot
und den Champagner dazu verdient, aber jeder Abend, an dem
leere Machwerke aufgeführt werden, jede Mark, die dafür in die
Theatercasse gleitet, ist der echten Kunst gestohlen und, was
noch weit ärger ist, sie verdammt den echten Künstler zur Un¬
fruchtbarkeit oder Verzweiflung. Gewiss können die paar tausend
Leute, die im amerikanisierten Deutschland von heute noch Kunst¬
empfinden haben, ziffermässig nichts ausrichten; aber selbst wenn
sie den viel zu Vielen mit dem Salze ihrer Intelligenz den ekelllaften
Brei, der ihnen mundet, nicht versalzen können, so dürften sie
sich doch nicht zu ihren Mitschuldigen machen.
Aber auch im Theaterwesen geht die wirtschaftliche Ent¬
wicklung vom Kleinmeisterthum zu den grosscapitalistischen
Trusts unaufhaltsam vor sich und bedroht es mit der Vernichtung.
Schon beginnen die englisch-amerikanischen Melodramen mit
protzig-kostbarer Ausstattung auch in Deutschland sich einzu¬
bürgern, und es wird gar nicht lange dauern, bis diese geschicht¬
lichen und religiösen Prunkbilder mit ihren Folterscenen,
Kreuzigungen, Festzügen, lebenden Bildern, echten Wettrennen
sich die Bühne völlig erobert haben werden. Den Anfang hat
Wien gemacht, wo ein englisches Sensationsspiel, „lm Zeichen
des Kreuzese, literarisch auf der Stufe der schlechtesten Dienst¬
botenromane stehend, der grösste Erfolg der Saison war, und
schon hört man, dass eine englische Actiengesellschaft, deren
einziger Geschäftszweck die Ausbeutung des biblischen Dramas
„Ben Hure ist, in Deutschland eine Anzahl- von Bühnen
pachten und dort ihr Spiel gegen die Kunst beginnen will. Und
wenn vielleicht auch heute noch nicht, in wenigen Jahren ist
Deutschland bereits genug amerikanisiert, um die Actiengesell¬
schaft -Ben Hur eine reiche Dividende verdienen zu lassen.
Dann hat der capitalistische Frostschauer alle literarischen Keime
zerstört, und der Geschmack des Goethe-Landes ist dahin aus¬
gereift, den Clown als Komik und nervenerregende Sensationen
des Circus als Tragik zu empfinden.
Dem Theater ist die Literatur nicht nur in der Rubrik der
Zeitungen verschwistert, sondern auch in ihrer Entartung. Die
Vielschreiberei allein könnte man nicht als kennzeichnendes
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