II, Theaterstücke 14, Der Schleier der Beatrice. Schauspiel in fünf Akten (Shawl), Seite 621

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14. Der Schleier der eatrice
Nf. 10236
10. Februai 1907

Kurt Genke: „Tfark Evers.“ Herder: „Erlkönigs Tochter“. F. J.Proschko:
„Die kleine Versetzerin.“ „D' falschen Zähnt“ und andere Scherz¬
en
gedichte. Karten zu 10 H. beim Portier. — XVIII., Michaeler¬
straße 25, 5 Uhr, Frau Lola Fuchs, Rezitation: Dichtungen von
Goethe, Baumberg, J. Bierbaum, R. Dehmel und anderen. Karten
zu 10 H. im Vortragshause beim Portier.
und Versammlungen.] Morgen
[Vorträge
(Sonntag) finden folgende Vorträge und Versammlungen statt:
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Wiener Handels= und Gewerbeverein 10 Uhr vor¬
mittags, im Festsaale des Gemeindehauses, XV., Rosinagasse 4,
1
Festgeneralversamnlung aus Anlaß des 40jährigen Jubiläums
Le des Vereines, bei welcher auch die Prämiierung verdienter Arbeiter
sen und Arbeiterinnen vorgenommen wird. — Vereinigung der
die
arbeitenden Frauen, abends 6 Uhr, I, Tuchlauben 11,
he
Geza Berger aus Cincinnati: Die Frauen und ihre Rechte in
Amerika.“ — Straßenmeisterverein, 2 Uhr nachmittags,
im Restaurant Novak, Landstraße. Hauptstraße 45, konstituierende
die
Generalversammlung. — Oesterreichisches Museum, ½5 Uhr
nachmittags, dritter Vortrag im volkstümlichen Museumskurs: „Ge¬
schichte des Porträts“ (mit skloptischen Demonstrationen). Vor¬
se. tragender Regierungsrat Dr. Leisching.
die
„Décadence.“
(Karnevalsfest der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens¬
Wie die Flaubertschen „Visionen des heiligen Antonins“
ter
ist diese Nacht an uns vorübergerauscht. Laut und lärmend,
bacchantisch toll, ein Wintermärchen in der Hitze, in der
I
Farbenglut eines Sommernachtstraumes, ein Rausch in 5##0
Tönen, Lichtern und phantastischen Ideen. Wer sich dem
Rausche willig hingab, fand hier Form und Ausdruck für
alle Gelüste seiner Phantasie. Ausgeartet, entartet reiften an
allen Ecken und Enden schwer, süß und verführerisch duf¬
tende, geschmackvolle Blüten, dann wieder kichernd, spitzig und
satirisch schreckhafte Auswüchse und vermummte Früchte müder —
Kulturen. Es war eiw Rendezvons der Rossinements.
Beardsley legte (bildlich) seine schlanken Finger in die fette
Hand Lucullus' und tanzte mit ihm und degenerierten.
Göttinnen Cancan. Unerhörte, nie gesehene Sensationen gab
plastische Gemälde, Nixen in
es: rauchende Centauren,
moderner Gewandung, Wassermänner mit dem Zylinder auf
dem Kopf; Affen benahmen sich wie Menschen und Menschen
wie Affen — eine furchtbare Erkenntnis, die mit schrillem
Ernst die höchste Lustbarkeit durchfuhr — eine echt dekadente,
ite
mit Bitternis gemischte Freude. Was die Welt an Wundern,
Schönheit und Scheußlichkeit hat, ein winziger Bruchteil war
davon hieher gezaubert. Was den verwesenden Gehirnen ver¬
ne
sunkener Geschlechter seinen Ursprung dankt: lukullischer
Luxus, Festesglanz, verfallenden Römertums exzentrische Ge¬
danken bier fanden sie, bespöttelt und verlacht, Nachbildung
und fröhliche Auserstehung. Beinahe das Gastmahl des

Trimalchio in Tat und Fresko war zu sehen; die Schmerzens¬
lasterhöhlen Chinas, Opiumhöhlen, die Melancholie eines
stillen Kanals Venedigs, die Auswüchse modernster Kunst,
die Bizarrerien zartesten Aesthetentums, der Plakasstil unseres“
Lebens, das rasende Gebrüll der Straßenwände, die Aus¬
ir
läufer verfeinerter Kunst vor Jahrtausenden, das Tingl¬
tangl, alles was die Nerven stachelt, alles was Verfalls¬
symptome im Antlitz trägt, wirbelte hier echt und persilliert
im Sturm, in Elstase vorbei. Unerschöpflich quoll die Fülle
der Gestalten, drängte die Masse der Masken, unaufhörlich
wechselte das grelle Kaleidoskop der gescheckten tobenden Menge
seine Farbe, eine Spukwelt des Frohsinns ergoß sich in die
Säle; Unwirkliches und doch Lebendiges, Uebertriebenes,
Närrisches, Orgiastisches und alles durchgellr vom jauchzend¬
hektischen Schrei des Karnevals, der ahnt, daß er nun sterben
muß, in kaum drei Tagen sterben muß. Das war die Stim¬
mung und der Sinn des Festes, der von der Menge dämmer¬
haft empfunden, von einzelnen poetisch genossen ward. Es
war eine Nacht der Künstler für Künstler, die Nacht der
letzten Neige. Und — erhaben über Gebrüll, Musik, Ge¬
lächter und Gschnas — hing leicht und dustig für alle jene,
die sehen können, der Schleier der Beatrice in den Soffiten
dieser imaginären, gemalten, bekädenten Wen.
Der Einzug der Gruppen.
Das eigentliche tolle Leben des Abends begann natürlich
ick
erst gegen 11 Uhr mit dem Einzug der verschiedenen Gruppen.