II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 453

Reigen
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Samstag
verletzung des Bundesministeriums haben wir in dieser Zeit, in
der die Verletzung geschriebenei und ungeschriebener Gesetze an der
Tagesordnung ist, nicht notwendig gehabt. Nebenbei war der Vor¬
gang des Heirn Dr. Glanz nicht bloß eine schwere Schädigung
des Staatsbegrisses, er war auch eine Ungeschicklichkeit sonder¬
gleichen. Mit diplomatischen Mitteln hätte er vielleicht etwas
erreichen können. Er ist mit der Polizeifaust dareingefahren und
hat sich nur eine Blamage geholt. Würde sie nur seine Person
betreffen, die aus dem Dunkel einer uninteressanten Beamtenlauf¬
bahn gekommen ist und sich bishei in keiner Weise interessanter
gemacht hat, so wäre das Uebel nicht groß. Aber sie trisst auch
den Staat selbst und das ist allerdings bede##der.
Fast möchte man glauben, daß die Partei des Herrn
Dr. Glanz alle diese Argumente selbst fühlt. Sie hat es gar
nicht versucht, das Vorgehen des Bundesministers irgendwie gesetz¬
lich zu stützen, sondern ihre bewährtesten Zwischenrufer vorgeschickt
und sich mit Argumenten beholfen, die gerade für einen litera¬
rischen Anlaß ziemlich simpel sind. Und ebenso möchte man glauben.
daß die Christlichsozialen bei dieser ganzen Anacke gegen den „Reigen“
mehr auf die Taktik als auf das Endergebnis gesehen haben Sie
wollten der unbequemen Wiener Landesregierung eins versetzen
und haben sich dazu einen Anlaß gewählt, bei dem sie eine An¬
zahl von Mutläufern aus angeblich eihischen Gründen zu finden
hofften. Aber gerade als Regierungspartei kätten sich die Christ¬
lichsozialen ihrer Verantwortlichkeit bewußt sein müssen und den
schwanken Staat nicht unnötig belasten dürfen. Wenn die
Regierungspartei, die selbst die Bundesverfassung gefördert hat,
und wenn ihre eigene Regierung, an deren Spitze der Schöpfer
der Bundesverfassung steht, diese nicht achten, dann sieht man
einfach, daß in diesem unglücklichen Oesterreich nichts mehr einen
Halt hat und da die Verfassung keinen Deut mehr wert ist als
irgend ein Preistreibergesetz, das ein landläufiger Schieber bei¬
seite schiebt.
Es gibt Leute, die die Aufführung des „Reigen“ nicht vom
ethischen Standpunkt aus betrachten, der eigentlich für erwachsene
Menschen eine Privatangelegenheit ist, sondern vom literarischen
Standpunkt. Diesen Leuten war Artur Schnitzker ein Führer, der
mit seiner feiner Dialektik auch für unsere Zei nach gewissen
Richtungen ein Repräseniant ist. Nun sieht man, daß die Anarchie
wie so vieles, auch das Theater überschwemmt hat. Was nennt
sich heute nicht alles Theater! Ballungen von Worten,
dunkel empfundene Gefühle, die in dem immerwährenden Aus¬
rufe: „O Mensch!“ ihren angeblich höchsten Ausdruck finden
Unverständlichkeiten jeder Art und jeder Formlosigkeit. Ein
Meister der dramatischen Form hätte daran denken müssen, daß
sein „Reigen“ nicht Theater ist, sondern gegen alle Gesetze
des Theaters verstößt, Schnitzler hat daran, nicht gedacht
Auch hier Anarchie und auch hier ist es gerade ein Führer, dei
berufen ist, die Idee seines Lebens hoch zu halten und sie ver¬
lassen hat. Genau so wie Dr. Glanz — hüben und drüben sei
für diese Nebeneinanderstellung um Verzeihung gebeten — dem
ohne Nachweis seiner Eignung zu einem Hüter der Verfassung
berusen ist, diese im Stich läßt, sobald ihm andere Ziele
erstrebenswerter erscheinen. Die Anarchie der Kompetenzen haß
eben alles mitgerissen, was an höherer Stelle steht sei es durch
die Berufung des großen Talents oder durch die geringfügigere
einer Partei. Und das ist das bedauerliche Ergebnis dieses
neuesten Konflikts, wahrscheinlich sein einziges Ergebuis, in sach¬
licher Beziehung.
Der Kampf au den „
eigen
Rulionaltal.
#ie stürmische Sitzung. — Die Stellung des Mi¬
nisters Dr. Glanz erschüttert.
Der Natior alrat ##t gestern eine stürmische Sitzung erlebt
Der Minister des Innern Dr. Glanz hat über den Kopf des
Landeshauptmannes von Wien Bürgermeister Reumann
hinweg, der allein hiefür zuständig gewesen wäre, ein Verbot
gegen die weiteren Aufführungen von Schnitzleis „Reigen“ in
den Kammerspielen erlassen, das der Landeshauptmann zwar
nicht zur Kenntuts genommen hat und auch nicht durchführen
ließ, das aber durch die damit begangene Verletzung der Ver¬
fassung zu einem schweren parlamentanischen Konflikt Anlaß aab