II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 798

11.
Reigen
box 18/1
Die Aufführung von Schnißser
„Reigen“
— eine „tliche
Tat“
Nach dem Urteil der Sechsten Zivilkammer des
Berliner Landgerichtes III.
Man wird sich erinnern, daß die von Frau Eysoldt
und Herrn Sladek beabsichtigte erste Aufführung von Artur
Schnitzlers „Reigen im Kleinen Schauspielhause
Berlin auf Antrag des Hochschukleiters Professors Franz
Schreker von der Berliner Polizei aus Sittlichkeitsgründen
verboten und Frau Eysoldt und Herr Sladek mit hohen
Strafen bedroht wurden. Gegen die Verfügung apvellierten
die beiden Künstler an die Sechste Zivilkammer des Berliner
Landgerichtes III als höhere Instanz und erzielten die
bedingungslose Freigabe der Aufführung Jetzt liegt der
Wortlaut der landgerichtlichen Entscheidung vor, die eine
geradezu glänzende Rechtfertigung Schnitzlers bedeutet
Das inhaltlich und formell gleich bedeutsame Urteil lautet
Die
Hochschule für Musik hat den Antragsgegnern ihren
Theatersaal, jetzt Kleines Schauspielhaus genannt, für schau¬
spielerische Zwecke vermietet. Der Vereinbarung gemäß, dürfer
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Neues Wiener Journa!
sein kann. Gleiches gilt von der „starken finnlichen Erregung“
der Ausgelassenheit und der Verführungskunst der Schauspielerin
im neunten Bild Die überaus schwierige Aufgabe, die
Darstellung hier nicht ins Unschickliche oder ins tierisch
Triebhafte entgleisen zu lassen, wird durch gelungene Zurück¬
haltung und Zügelung alles Gemeinen vorbildlich gelöst. Im
vierten Bild geht die Erörterung des Ausbleibens der Geschlechts¬
lust mit 'aller Sachlichkeit und Nüchternheit vor sich. Die Er¬
örterung des Ehebruches im fünften Bild erscheint notwendig,
um das seelische Erleben der jungen Frau hinsichtlich des Ehe¬
bruches, ihre Abenteuerlust, ihre Begehrlichkeit, ihre innere Zwie¬
spältigkeit und Unruhe ins rechte Licht zu rücken.
Die körperliche Vereinigung sollte stets lediglich der natür¬
liche Ausfluß innigster seelischer Gemeinschaft sein. Ein Verfall
dieser Auffassung hat leider in weitesten Schichten Platz
gegriffen. Diesen Kreisen wird durch diese Aufführung
die ganze Jämmerlichkeit des in ihrer Mitte mehr und mehr
einreißenden sittlichen Tiefstandes nachdrücklichst vorgeführt. Es
wird gezeigt, wie durch einen unedlen und unvollkommenen Genuß
des Augenblicks gedankenlos und würdelos zu Boden getreten
wird, was der Menschheit das Heiligste sein sollte. Die Wieder¬
holung der nämlichen Redewendung seitens der nämlichen
Person bei zwei verschiedenen Anlässen und die Wieder¬
kehr solcher Wendungen bei verschiedenen Personen in ähn¬
licher Lage kennzeichnen treffend jenen Mangel an Eigenart
und Selbständigkeit, auf dem der geringe Persönlichkeitswert
des Durchschnittsmenschen unserer Zeit beruht. Diese Entwürdigung
des Geschlechtsverkehrs zur Alltäglichkeit, zur Laune, zum Leicht¬
sinn, zum Abenteuer, dies Fehlen jeder großen, tiefen, sittlich
begründeten, echten, edlen Leidenschaft wirken erschütternd, weil
sie auf richtiger Beobachtung beruhen.
Inmitten der einzelnen Bilder, wenn zur Andeutung der
sich vollziehenden Vereinigung der Vorhang auf wenige Sekunden
sich schließt, und zwischen den einzelnen Bildern ertönt
eine Musik von Celesta und Cello oder Geige und Flöte. Diese
Musik lehnt sich an keine Kunstform an und ist dazu bestimmt,
mit ihren erotischen Phrasen die Stimmung festzuhalten, die in
dem Augenblick herrscht, in dem der Vorhang den Fortgang der
Handlung verhüllen soll.
Die Wirkung der Aufführung soll nach der erklärten Ab¬
sicht der Antragsgegner gipfeln in der Erzielung eines sittlichen
Ekels vor dem Tiefstand der Haltung weitester Bevölkerungs¬
schichten auf dem Gebiete des Geschlechtslebens. Auf diesen
Erfolg ist jede Einzelheit berechnet. Dieser Erfolg wird bei jedem
reifen, gebildeten Zuschauer auch erzielt. Vor allem beruht
diese Wirkung auf der ernsten Hingabe der Antragsgegner
an ihre Aufgabe und auf ihrer überlegenen Kenntnis der Wirkung
der szenischen Darstellung. Auch mag die Benutzung des von
Max Reinhardt verfaßten Regiebuches ihnen wertvolle Dienste
geleistet haben. In der zweiten vom Gericht besichtigten Auf¬
führung verloren im vierten Bilde der weibliche Teil, im neunten
Bilde beide Teile die Haltung, indem sie gerade an Stellen von
entscheidender Bedeutung ohne jeden Zusammenhang mit ihrer
Rolle in den Zuschauerraum hineinlachten. Es ist kennzeichnend
für den hohen Stand der Aufführung, daß durch diese an sich
sehr bedauerlichen Entgleisungen der Gesamtwirkung kein Abbruch
geschah. So bedeutet diese Aufführung eine sittliche Tat.
Es besteht zwar die Gefahr, daß der „Reigen“ auf unreise
oder unzureichend gebildete oder schlecht erzogene oder sittlich ver¬
vorbeue Menschen einen Einfluß dahin ausübt, daß sie sich auf
die hier gegeißelte Auffassung von der Bedeutung des Geschlechts¬
ebens einstellen. Doch kann jedes Kunstwerk, welches eine Au¬
eutung des Geschlechtlichen auch nur zuläßt, auf diese mi߬
räuchliche Weise ausgenommen werden. Ferner wird die
Meinung vertreten, die Erörterung solcher Dinge auf der
Bühne sei an sich in sintlicher Hinsicht anstößig. Diese
Meinung ist unzutreffend. Vielmehr kann es für die Auf¬
haltung des sittlichen Verfalls nur förderlich sein, diese Dinge so
zurückhaltend und sachlich und zugleich so deutlich und rücksichtslos
anfzudecken und zur Erörterung zu stellen, wie es hier geschieht.
Der zugrunde liegende Mietvertrag ist zwischen dem damaligen
Direktor der Hochschule für Musik, Kretschmar, und der
Frau Eysoldt geschlossen. Die führende Stellung dieser
Persönlichkeiten im Bereich der Kunst berechtigt zu dem
Saing
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