II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 887

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darstellen darf, und daß sie imstande ist, auch solche Gegen¬
stände künstlerisch bis zu dem Grade zu durchgeistigen und
zu verklären, daß für das gesunde ästhetische Gefühl die
sinnliche Empfindung durch die Freude am Schönen zurück¬
gedrängt wird. Die Kunst kann auf diese Art den ge¬
schlechtlichen Stoff über das Niveau erheben, von dem aus
ein ungebildeter Sinn etwas Unzüchtiges darin erblickt. Ent¬
scheidend ist der Grad künstlerischer Vollendung.
Hierbei kommt man auf das Gebiet, wo der Richter des
künstlerischen Sachverständigen und seiner Hilfe nicht ent¬
raten kann. Man kann nicht von jedem Richter verlangen,
daß er in das Wesen künstlerischer Arbeit und Wirkung
einen vollen Einblick besitzt. Wieviele Leute messen den Wert
eines Dramas an seiner moralischen, politischen oder sonsti¬
gen Tendenz, ohne zu ahnen, daß diese höchstens ein Bei¬
werk oder ein Stoff des Kunstwerkes sein kann, daß aber
auch sie durch künstlerische Behandlung zum Kunstwerk erhoben
werden muß. Die künstlerische Wirkung eines Werkes kann
der Außenstehende wohl als Ganzes empfinden, aber nur
ein geübter Kenner wird sich und anderen immer klarzu¬
machen imstande sein, worin die Erhebung über das All¬
tägliche, über die bloße Wiedergabe eines Vorganges oder
Zustandes oder einer Lehre besteht. Bei einem Shake¬
speareschen Drama geht die zwingende künstlerische Wirkung
aus von dem Rhythmus im Wechsel der Szenen, zarter und
derber, ernster und possenhafter Motive, von dem Aufbau
jeden einzelnen Auftritts, von den Charakteren, ihren Har¬
monien und Dissonanzen, von der Notwendigkeit, mit der
aus den Charakteren und ihrem Widerspiel die Vorgänge
sich entwickeln. Bei anderen Werken ist eine Stimmung
das, was künstlerisch hergestellt wird. Ueber dem jetzt viel¬
besprochenen „Reigen“ von Schnitzler—schwebt ein leiser
ironischer, ja melancholischer Humor, mit dem das alltäg¬
liche Geschlechtsleben von Menschen ohne innere Kraft und
Leidenschaft betrachtet wird. Hier besteht der künstlerische
Wert unter anderem in der Erzeugung und Festhaltung
dieser Stimmung durch eine Reihe von Abwandlungen
zwischen verschiedenen Personen und in verschiedenen
Parianten, in der Grazie und Feinheit des Dialogs, in
der Folgerichtigkeit, mit der in jeder Szene nur das Not¬
wendige gesagt ist und jedes Wort auf die Wirkung und Ent¬
wicklung eingestellt wird. Dasselbe gilt natürlich von den
Leistungen der Darsteller eines dramatischen Werkes. Jeder
Ton, jede Geste ist ein wohlüberlegtes, ausgeprobtes Hilfs¬
mittel zur Wiederschaffung des Werkes, zur Erzeugung der
Stimmung. Musik tut das übrige dazu.
Wie soll nun jemand, dem solche künstlerische Betrachtung
fremd ist, die Frage beantworten, ob der Stoff vom Künst¬
lerischen aufgesaugt und zum Kunstwerk erhoben ist, ohne
die Stimme des Sachverständigen zu hören und zu beachten?
Niemand wird dem Richter das Recht nehmen, sein eigenes
Urteil schließlich wählen und entscheiden zu lassen. Wollte
er aber den Versuch, sich über das Künstlerische belehren zu
lassen, abweisen und hielte er statt des Urteils der Künstler
und Kenner das des Unverstands und Hasses für das
normale, so drückte er dem blinden Hödur den Pfeil in die
Hand, der den Lichtgott der Kunst umbringt.
Freilich trifft die erste Schuld an den lächerlichen und
Deutschland bloßstellenden Prozessen die Vertreter alten
Geistes, die in Behörden und leider auch Parlamenten jetzt
ihre Zeit wieder gekommen wähnen. Ihnen sollten mutige
und ihrer Verantwortung bewußte Richter solche Absagen
erteilen, daß sie wieder in die Mauselöcher kröchen, wo sie
vom Herbst 1918 an zwei Jahre gesteckt haben. Sie haben
genug Arbeit, wenn sie die unkünstlerische Schmutzliteratur
bekämpfen, gegen die jeder Anständige sich wenden wird.
Von der Kunst sollen sie die Finger lassen.
Der 11. November amerikanischer Nationalfeiertäg.
Der amerikanische Kongreß nahm einen Beschluß an, wonach
der Tag des Waffenstillstandes zum Nationalfeiertag erklärt wird.
Londoner Kinos.
Von
Ludwig Wachtel,
Berichterstatter der „Vossischen Zeitung“.
K London, 1. November.
Ein Engländer hat sich, wie in dem Fachblatt „Der Film“ mit¬
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