II, Theaterstücke 11, (Reigen, 0), Reigen. Zehn Dialoge, Seite 1074

Wien, Donnerstag
Nr. 21058
sihm trennt. Kein Körper bewegt sich in bezug auf einen
underen, ohne daß dieser sich mit Bezug auf den ersten bewegt.
Ein gegen den Strom schwimmender Mann ist bezüglich der
Flußuser als ruhend zu betrachten, obgleich er sich unablässig
bewegt, von Wasserteilen trennt, um sich anderen anzufügen.
Verblüffend ist auch Cyranos Gleichsetzung der Wirkung
schwerer und träger Massen. Mehr als zweiundeinhalb Jahr¬
hunderte vor Einstein!
Cyranos Nase mag in Rostands romantischer Komödie
zu lang geraten sein. Seinem Geist und Adel wird der
Dichter aber vollauf gerecht, wenn er von ihm sagt:
Ein Edelstein der Menschheit, und ein echter!
Gelehrter! Musiker! Poet! Und Fechter!
Newyorker Prief.
Die „Reigen"=Affäre. — Der Einfall eines Bild¬
hauers.
— Isodora Duncan.
— Die Poli
ei gegen
den Tanzunfug. —
Ein Tanzdiktator. — Die Welt¬
meisterschaft im Dauertanzen.
— Anwendung de
Musik in der Heilkunst.
— Professor Lorenz
als Kirchenprediger.
Nach Wien und Berlin hatte nun auch Newyork seinen
„Reigen =Rummel. Zu Ehren des bekannten Bankiers Otto
H. Kahn plante der „Green Room Club“ eine Spezialvor¬
stellung des „Reigen im Belascotheater. Aber durch die
für diesen Fall etwas geräuschvolle Reklame aufgescheucht,
legten sich die „Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters
und kirchliche Faktoren ins Mittel. Belasco zog darauf die
Erlaubnis, den „Reigen“ in seinem Theater zu spielen,
zurück und Otto H. Kahn erklärte in einem Schreiben an
den Sekretär der „Society for the Suppression of Vice, die
das Stück lasterhaft und verderblich fand und Schritte unter
nahm, die Vorstellung zu vereiteln, der Aufführung nicht
beizuwohnen. Eine Darstellerin erklärte sich ebenfalls in
ihren heiligsten Gefühlen verletzt, eine Entdeckung, die sie
erst machte, da der Staub bereits aufgewirbelt war — und
sagte entrüstet ab, und nun kam das Komitee auf den
unglücklichen Gedanken, die fünf Frauenrollen mit Männern
zu besetzen, was auch jene gegen das Stück einnahm, die sich
gegen eine weibliche Darstellung tolerant gezeigt hatten.
Natürlich wurden Gerichte und Aemter in Bewegung gesetzt,
das Komitee erbot sich, das Stück erst einem Forum von
Sachverständigen vorzulesen, der Sekretär der „Lord’s Daj
Alliance, ein Pastor, wies auf die Klagen der vielen
Kirchenbesucher hin, die gegen die Aufführung — ob öffent¬
lich oder privat, ob von Männern oder Frauen, ob gegen
Eintrittsgebühr oder frei — opponierten, und das Ende
dürfte sein, daß der „Reigen“ bis auf weiteres unaufgeführt
bleibt. Den Vorschlag, das Gutachten von Sachverständigen
einzuholen, wurde von einem Richter mit dem Hinweis be¬
kämpft, daß nicht die Wirkung auf die Sachverständigen,
ondern auf das Publikum in Betracht komme, die Frage
also von diesem Standpunkte aus beurteilt werden müsse
Es scheint, daß auch gegenüber echten Kunstwerken die
gleichen Gesichtspunkte maßgebend sind, wie sie die Film¬
zensur anwendet, die jede irgendwie verfängliche Stelle
streicht. Die puritanische Strenge macht keinen Unterschied
zwischen einem Kunstwerk und spekulativen Erzeugnissen,
sie sieht in allem nur das Sinnliche. In einem fashionablen
Seebad in Atlantic City wurde ein bekannter Bildhauer mit
der Erbauung eines Brunnens betraut. Der Bildhauer krönte
sein Werk mit einer Badenymphe, die aber nicht den Beifall
der Stadtväter fand, da sie nicht mit dem vorschriftsmäßigen
Badekostüm bekleidet war. Der Bildhauer wußte sich zu
helfen; er komponierte einen Bademantel und eine Bade¬
mütze dazu, und nun war jede Opposition, jede sittliche
Gefahr beseitigt.
Der Schutz der guten Sitten schießt manchmal ein
wenig übers Ziel hinaus. Das mußte Isadora Duncan
erfahren, die kürzlich in ihrem Geburtslande eine Tournee
absolvierte und allerorten auf Schwierigkeiten stieß, weil ihre
Bekleidung zu mangelhaft wäre. In Boston sistierte der
Bürgermeister den Tanz und nötigte die berühmte Künst¬
lerin, ihre Tanztoilette zu vervollständigen. In Indianopolis
wurden Wachleute als Tugendwächter auf die Bühne gesetzt,
und ähnlich erging es ihr in anderen Städten, in denen
gegen das Barfußtanzen agitiert wurde. Verstimmt und ver¬
ärgert verließ Frau Duncan ihr Geburtsland, um ihrem
jungen Gatten nach Rußland zu folgen, allerdings nicht
ohne vorher ihrem Zorn freien Lauf zu lassen. Ihre
drastischen und temperamentvollen Aeußerungen mußte
sie
mit dem Verlust der amerikanischen Staatsbürgerschaft
büßen.
Neue Freie Presse.
Dem Lanze wird nunmehr von der Obrigkeit erhöhte
Aufmerksamkeit zugewendet und der Tanzausartung schar
entgegengetreten. Nirgends wird so viel getanzt wie in
Newyork und selbst die heiße Jahreszeit ist für ältere und
üngere Leute kein Hindernis, sich in den öffentlichen Tanz¬
lokalen in den mannigfachsten Körperverrenkungen an¬
einanderzudrücken. Die unzähligen Tanzhallenbesitzer
wurden von der Polizei angewiesen, den Tanzunfug, soweit
er sich auf die Abarten des „Foxtrott“ bezieht, abzustellen.
Diese erwiderten jedoch, den Zuständen machtlos gegen¬
überzustehen, da die Tänze in der Stadt allgemein ver¬
breitet wären; bei den „Vornehmen“ nicht weniger als in
den öffentlichen Tanzlokalen. Die Polizei überwacht nun
öffentliche Tanzlokale schärfer, und ist entschlossen, Pärchen,
die sich nicht an die Vorschriften halten, Gelegenheit zu
geben, in separierten Zellen über ihre Sündhaftigkeit nach¬
zudenken.
Durch diesen Ukas fühlten sich die Tanzlehrer gekränkt
und die amerikanischen Tanzlehrervereinigungen beschlossen,
ähnlich wie die Filmunternehmungen, die Theater und Base¬
ballklubs, einen Diktator zu wählen, einen Tanzdiktator,
den die Stellung autorisiert, zum Schutze der Tanzkunst und
gegen Angriffe einer Tanzzensur wirksam aufzutreten. Die
Tanzlehrer wehren sich gegen die Bestrebungen, die den Tanz
unter die Kontrolle von Staatskommissionen setzen wollen,
und zwar nicht allein, weil damit die Tanzkunst herab¬
gewürdigt, sondern auch ein Attentat auf die Tasche des
Steuerzahlers versucht würde. Der letztere Appell verfehlt
elten seine Wirkung. Nach Ansicht des Präsidenten der
amerikanischen Tanzvereinigungen ist das unsittliche Tanzen
nur eine lokale und temporäre Erscheinung; Schutz ist aber
gegen diejenigen nötig, für welche die zur Schau getragene
Intoleranz gegen das Tanzen nur ein Geschäft ist. Im übrigen
glaubt man jetzt, auch aus dem Tanz einen Sport machen zu
dürfen. Vor wenigen Tagen wurde der von Viktor Hindmarch
in England aufgestellte Tanzrekord von vierundzwanzig
Stunden von Miß Alma Cummings, die mit ihrem wirk¬
lichen Namen Stappenback heißt, geschlagen. Miß Cummings,
die Tanzlehrerin im Andubon=Ballsaal ist, tanzt siebenund¬
zwanzig Stunden ununterbrochen und erlangte dadurch die
Weltmeisterschaft im Dauertanzen. Sie ist in Texas geboren
und schreibt die Ausdauer dem Umstande zu, daß sie seit neun
Jahren vegetarisch lebt. Sie zeigt mit Stolz ihre durch¬
löcherten Tanzschuhe und meint, sie hätte früher aufhören
müssen, wenn sie nicht drei paar Strümpfe angehabt hätte.
Während des Tanzes nahm sie lediglich Früchte, Nüsse und
sogenanntes alkoholfreies Bier zur Erfrischung.
Die Kunst, beziehungsweise die Musik soll nunmehr
nicht nur zur Erheiterung und Erbauung, sondern auch als
Heilfaktor Verwendung finden. Der Professor für Psycho¬
ogie an der Universität in Cincinnati Diserens ist mil
Versuchen beschäftigt, den Einfluß verschiedener Ton¬
ombinationen auf das menschliche Nervensystem festzu¬
tellen, und er glaubt, daß er in der Lage sein wird, genaue
Tabellen über die Wirkung anzulegen und seine Theorie so
praktisch zu gestalten, daß es möglich sein wird, den Patienten
„musikalische Rezepte“ zu verschreiben. Die Musik kann
beruhigend und stimulierend wirken, und sie ist zu diesem
Zwecke schon in manchen Spitälern gebraucht worden. Pro¬
essor Diserens macht seine Versuche nach der Richtung, den
Einfluß der Musik, beziehungsweise der Töne auf Puls,
Herz und andere Mechanismen des menschlichen Körpers
zu messen, und hofft innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit
mit seinen Resultaten hervortreten zu können. Es wird also
bald möglich sein, Musikstücke gegen nervöse Erscheinungen
zu verordnen, was wahrscheinlich ein Aufblühen der Gram¬
mophonindustrie und eine Zunahme der Konzert zur Folg#
haben dürfte.
Professor Adolf Lorenz, der bald seine Heimreise nach
Wien antreten dürfte, hat zur Abwechslung einmal statt
Wunden zu heilen, sich als Seelenarzt versucht und eine Ein¬
adung des Pastors der Chelsea Methodist Episcopal =Kirche
in der 178. Straße von Newyork angenommen, um beim
Sonntagabendgottesdienst zu sprechen. Die Kirche war gesteckt
voll von Gläubigen, die gekommen waren, den Worten des
berühmten Wiener Gelehrten zu lauschen. Und Professor
Lorenz benützte die Gelegenheit, um in eindringlichen Worten
die Not des Wiener Mittelstandes zu schildern. Mit dem Er¬
gebnis dürfte er zufrieden sein.
Newyork, Anfang April.
Simon Lehr.
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