II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 57

box 16/2
10. Das Vernnechtnis
zichtet, wenn es nur reichlich genug ausgehalten wird.
illegitimen Familienzuwachs sich abzufinden begonnen hat:
Burgtheater.
Wer möchte leugnen, daß unsere bürgerliche Wohlanstäu¬
er läßt das Kind sterben. Nun regen sich die ein¬
rmächtniß", Schauspiel in drei Akten
digkeit auf morschen Säulen ruht, wer aber möchte des¬
geschlummerten bürgerlichen Vorurtheile vom Neuen und
von Arthur Schnitzler.)
wegen behaupten, daß die Prostitution oder die freie Liebe
das im alten Losatti und in seinem zukünftigen Schwieger¬
und schöne Versprechungen war das
der Grundpfeiler aller tieferen Sittlichkeit ist? Auf jeden
sohn verkörperte böse Prinzip beginnt mit Einflüsterungen
ng-Wien nie verlegen. Wir wollen eine
Fall ist es eine leichtsinnige Tendenzmacherei, unsere
und Vorstellungen gegen Toni Weber zu schüren: man
schaffen, eine eigene österreichische Kultur
gesellschaftliche Schamhaftigkeit, die sich instinktiv in der
habe wohl eine Pflicht an dem Kinde des Sohnes zu er¬
cht Wiederkäuer sein, sondern Renaissance¬
grundsätzlichen Anerkennung der Ehe und der Familie
füllen gehabt, nicht aber eine weitere mehr an der Ge¬
ßund einzigartig, keine Eklektiker, sondern
ausdrückt, schlechtweg als Heuchelei zu verwerfen, statt sie
liebten des Sohnes zu erfüllen, nota bene an einer im
s. w. So hörte man es aus dem Jung¬
als angestammte sittliche Empfindung aufzufassen und sie
Grunde wildfremden Person, deren Anwesenheit täglich
rwalde seit Jahr und Tag in allen Ton¬
als solche der Emanzipation des Fleisches entgegen¬
und stündlich die Familienehre kompromittirt. So läßt
Und was hat das literarische Jung=Wien
zustellen.
man denn der armen Toni Weber Wohnung und Kost
ist glücklich wieder bei Sardon und
Sehen wir uns die traurige Geschichte, die uns
kündigen und bietet ihr dafür eine Rente an, über deren
ngt. Ehebruch und Dirnenthum, das sind
Arthur Schnitzler von dem süßen Vorstadtmäderl Toni
Vortheile sie fern von Madrid nachdenken möge. Toni
le, um welche sich Jung-Wien selbstgefällig
Weber erzählt, ein wenig näher an. Ein bürgerlicher
Weber ist aber keine „Solchene“, die sich mit Geld ab¬
ergnügten Possierlichkeit eines Vierhänders
Genußjüngling hat sich auf einem Spazierritt im Prater
fertigen läßt; sie nimmt sich die Aufsage so zu Herzen,
einem Akrobaten die Riesenwelle abge¬
das Genick gebrochen. Sierbend erpreßt er seinen Eltern
daß sie schnurstracks in die Donau läuft. Nun wird es
das Versprechen, sein „Vermächtniß“ d. i. seine Geliebte
Allen kund, welchen Engel man um der gesellschaftlichen
mann Bahr mit seiner widerlichen Effekt¬
Toni Weber und ihr vierjähriges Kind, in's Haus zu
Zimperlichkeit willen in den Tod gejagt...
m Ehebruchsstücke „Juana“ sich als Thea¬
nehmen und seine lebendige Hinterlassenschaft als legitimen
Das ist die traurige Geschichte, das tragische Ge¬
Schlage eines Sardou entpuppt, bei dem
Familienzuwachs zu behandeln. Eigentlich hätten die
schick der Toni Weber. Allein Herr Schnitzler suchte
matische Gehalt eines Stückes in den An¬
weinenden Erben Rücksicht zu nehmen auf eine unver¬
nicht die ewige Tragik solcher Geschöpfe, deren Neivetä
den Schauspieler steckt, so ist Arthur Schnitzler
heirathete Tochter, die gerade im Begriffe ist, sich mit
nur der inneren Stimme gehorcht, ohne auf die Gebote
Vermächtniß“ geradenwegs in die Fu߬
einem Manne von gesellschaftlicher Stellung zu verloben.
der gesellschaftlichen Moral zu hören, mit individuali¬
albweltvertheidigers Dumas getreten. Wie
Ungeachtet der Einwände des Alten und seines Schwieger¬
sirender Kunst und Absicht in die Region des Allgemein¬
r „Kameliendame“, so klagt auch Schnitzler
sohnes in spe wird das gegebene Wort redlich eingelöst
Menschlichen zu erheben, sondern er hat sich den Fall
d die Gesellschaft um ihrer rein äußerlichen
und Toni Weber mit ihrem „Bubi“ als Tochter und
Toni Weber eigens ausgeklügelt, um einen sozialkritischen
llen an, weil sie von den erhabenen Ge¬
Enkel mit offenen Armen begrüßt und in die wohl¬
Vorwand zu haben für eine Anklage gegen die Hart¬
Halbwelt noch immer nichts wissen wollen;
habende Sippschaft derer von Losatti ausgenommen.
herzigkeit der in
konventioneller Lüge erstarrten
so umspinnt auch Schnitzler das Dirnen¬
Derselbe Zufall jedoch, der den jungen Losatti
Bourgeoisie. Nicht ein Wort der Anklage findet er gegen
Heiligenscheine lauterster Liebe und kommt
vom Pferde herabgeworfen hat, um dem
Fall
die Feigheit jenes Lebejünglings, der das süße Vorstadt¬
sse: Die bürgerliche Moral ist korrupt und
Toni Weber eine dramatisch=sozialkritische Ursache
mäderl zur Mutter jedoch aus Furcht vor dem Nasin¬
hahrhafte Sittlichkeit wohnt nur noch im
zu geben, stellt sich pünklich zur Sekunde ein, wo die
rümpfen der Gesellschaft nicht auch zu seinem Webe
ßen Vorstadtmäderls, das auf die Ehe ver= spießbürgerliche Moral derer von Losatti mit dem gemacht hatte; nicht ein Wort der Anklage gegen die