II, Theaterstücke 10, Das Vermächtnis. Schauspiel in drei Akten, Seite 313

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Teisphen Il. ###.
Berlin N. 24
Ausschnitt aus
Aeeangnischer Corresponder:
1#
Beruner Cheater.
Aus Berlin wird uns geschrieben:
hk. Die Aufführung von Artur Schnitzlers dreizehn¬
jährigem Schauspiel „Das Vermächtnis“ war fast eine
Premiere — und wichtiger, als einige Dutzend Premieren. Das
Stück schien dem Theaterpublikum so gut wie unbekannt. Der
sehr schmerzhafte erste Akt ist einst als unerträglich empfunden
worden. Es stirbt nach einem Sturz vom Pferde, der Sohn des
Hauses im Kreise der Familie. Das Flackern und Erlöschen des
Lebens dehnt sich qualvoll, Wimmern und Weinen erfüllt die Luft.
Im Todeskampf ringt sich vom Herzen des jungen Mannes die
Sorge um sein Liebstes los, um sein geliebtes Mädchen und seinen
vierjährigen Knaben. Damit die beiden nicht zu Grunde gehen,
fleht er seine Eltern an, Mutter und Kind ins Haus zu nehmen.
„Das ist sein Vermächtnis.
Auch bei der Aufdeckung des vom Schutt rascher Zeiten schon
begrabenen Dramas griff die mit dem realistischen Auge des
Arztes und des Dichters fürchterlich treu geschaute Sterbeszene
die Nerven und Gemüter der Zuschauer grausam an. Aber das
Publikum der Neuen Freien Volksbühne (im „Neuen Volks¬
theater“, unter Edgar Lichos Leitung, wurde das Stück pracht¬
voll gegeben) scheut ernste Erschütterungen nicht so wehleidig, wie
die Verwöhnten, die sich, wenn sie vor der ernsten Wahrheit die
Augen schließen, über die „traurige Erfindung Leben“ täuschen zu
können glauben. Und hier begegnete auch der ätzenden Anklage
des melancholischen Dramas ein inniges Verstehen.
Ein Tendenzstück ist Schnitzlers „Vermächtnis“ nur im Sinne
der Ibsenschen Bekenntnisdichtungen. Denn so wenig wie bei
Ibsen, verschiebt oder verzerrt die Tendenz eine Linie der Cha¬
rakterzeichnung bei Schnitzler. Ibsen ist hart und Schnitzler
weich; doch in der Epigonenliteratur finden wir laum ein zweites
Drama, das bei aller Wesenseigenart dem Geiste und der Technik 1
des Meisters so nahebürtig wäre, wie dieses Schnitzlersche Schau¬
spiel. Der Geist Ibsens zeigt sich vor allem darin: Nicht etwa
Ausbünde von Schlechtigkeit stellt der Dichter als Typen der Ge¬
sellschaft entgegen den standhaften Menschen, die sich mit ihrer
großen Liebe außerhalb der Gesellschaft befinden. (Der Verstor¬
bene und seine ungetraute Gefährtin.) O, im Gegenteil! Im¬
merhin zu den besseren Durchschnittsmenschen gehören die meisten
Herren und Damen der Familie Losatti, die Eltern und Geschwi¬
ster, denen der Sterbende seinen zärtlichen letzten Willen ver¬
macht hat. Das Oberhaupt des Hauses, der Professor und
liberale Abgeordnete, ist allerdings ein eitler Schwätzer, ein
Phraseur der Vorurteilslosigkeit, ein egoistischer Weltknecht (ein
Hjalmar Ekdal in anderem Lebensalter und anderer Berufszone);
der Schwiegersohn ist allerdings ein streberischer Tugendbündler,
ein Heiliger des guten Rufes; Mutter und Tochter sind allerdings
mehr zaghaft und sittenfromm, als stark im Herzen. Trotzdem
ist es kaum die Schuld dieser moralfeigen Bourgeois, daß sie, im
bequemen Schoß ihrer Legitimitäten und vererbten Tugenden,
von dem selbstverständlichen Mut der seltenen Menschen nichts
ahnen, die ihr Glück und ihr Recht, wenn es sein muß, dem bür¬
gerlichen Gesetz abtrotzen. Schnitzler hält keine Bergpredigt für
die freie Liebe und gegen das Standesamt. Politiker streiten für
soziale Axiome, ein Dichter versteht, daß es nichts Allg
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gibt und, gemessen an Persönlichkeiten und Schicksal, für d

gut ist, was für den anderen schlecht. Dem Hochmut de
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schaftlichen Gerichtes, das keine Achtung hat vor der Persön
und ihrem Zwange, der lieblosen, sittsamen Unsittlichkeit gilt sein
bitterer Gram.
Es vollzieht sich so selbstverständlich: Um des Knäbleins willen
entschließt sich die Familie, das Vermächtnis des Sohnes und
Bruders zu erfüllen, Mutter und Kind bei sich aufzunehmen.
Man dünkt sich sehr hochherzig, man prahlt mit den empfangenen
Nadelstichen der Bekannten (ein trauriger Kleinmut, der derlei
überhaupt wahrnimmt!), man behandelt die junge Frau, der
man doch reichsten Dank schuldet für des Sohnes Glück und ihr
reines Opfer, mit seufzender Nachsicht. Aber das Kindchen stirbt,
Und jetzt ist die kodifizierte Tugend losgelöst von den Banden
des Bluts. Die „Mätresse“ des Sohnes paßt nicht mehr in das
ehrsame Haus; man schüttelt sie ab. Die Verlassene geht in den
Tod. Die männlichen Vorkämpfer der Aufklärung zucken die
Achseln; doch die Frauen wenigstens sind von Schuld erschüttert.
Die Tochter des Hauses weist dem korrekten Bräutigam die Tür,
und zur Mutter spricht sie: „Wir sind feig gewesen, wir haben
es nicht gewagt, sie so lieb zu haben, wie sie es verdient hat.
Gnaden haben wir ihr erwiesen, Gnaden — wir! Und hätten
einfach gut sein müssen.“
Ob dieses Schicksal und diese Worte anklingen im Innern
der Gutbürgerlichen, die dem Götzen der Reputation Glück und
Leben der Nächsten zu schlachten bereit sind? Im Volks¬
theater fand das feinfühlige Drama ein leidenschaftliches
Echo. Es war aber auch vortrefflich und nicht etwa vergröbert
gespielt worden. Das Neue Volkstheater ist dem Gedanken ge¬
weiht: „Für das Volk ist das Beste gerade gut genug.“