II, Theaterstücke 5, Liebelei. Schauspiel in drei Akten, Seite 1814

Liebelei

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Saison mitgemacht: „Liebelei“ („Amourette“)
„Wildente“ („Eauard Sauvage) und Ronald
Mackenzies „Musical Chaire“ („La Polka de
chaises“).
Im Gegensatz zu Stanislawsky, der für ein
Stück oft über hundert Proben benötigt, wird
bei Pitoeff verhältnismäßig wenig geprobt; aller¬
dings sehr intensiv. Die Probenarbeit für eine
Novität nimmt durchschnittlich drei Wochen in
Anspruch. Pitoeff ist stets sein eigener Aus¬
stattungschef. Er entwirft jede Dekoration und
jedes Kostüm. Damit seine Weisungen möglichst
genau befolgt werden, klebt er auf einen Pappen¬
deckel Kulissen und Prospekte, so wie er sie für
die Aufführung wünscht. Nach dieser Vorlage
führen wir dann diese Pläne aus. Ich sage wir,
denn der Oberregisseur Léonard und ich sind
beim Hämmern, Sägen und Pinseln selbst tüchtig
am Werk. Bühnenarbeiter in diesem Sinn wer¬
den kaum beschäftigt.
Pitoeff ist während der Arbeit ziemlich nervös!
und trinkt fortwährend Mineralwasser; aber bei
aller Nervosität ist er immer ruhig und versteht
es, die Schauspieler zu führen. Seine Gattin
Ludmilla ist die wertvollste Mitarbeiterin des
Ensembles. Als Hedwig in der „Wildente“ und
als Christine in „Liebelei“ hatte sie ganz großen
Erfolg — kein Mensch würde ihr ihre sieben
Kinder und vor allem eine siebzehnjährige Toch¬
ter glauben; voraussichtlich wird sich Nadja
Pitoeff auch der Bühne widmen. Als Regisseur
hält sich Pitoeff möglichst an den Text, nur dort,
wo ihm die Bühne nicht die Möglichkeit gibt, dem
Dichter zu folgen, geht er eigene Wege. Leider
war „Liebelei“ nicht ganz der große Erfolg, den
wir uns erwartet hatten, es kam nur zu 35 Auf¬
führungen. Es ist allerdings möglich, daß das
überhetonte Wiener Kolorit daran Schuld trug.
Das Bestreben, möglichst echt und wienerisch zu
wirken, verleitet Pitoeff zu kleinen Übertreibun¬
gen. So wurde unter anderem in der Souper¬
szene im ersten Akt ziemlich viel musiziert, das
Fiakerlied wurde gesungen, man bekam den
„Donauwalzer“ und eine Reihe österreichischer
Militärmärsche zu hören. Wenn irgend möglich,
besorgt Pitoeff auch die Übersetzung der von ihm
angenommenen Stücke: „Musioal chairs“ hat er
selbst übersetzt und für die französische Bühne be¬
arbeitet.
Als Regisseur ist er ziemlich autokratisch, wirkt
aber dabei nicht im mindesten überheblich. Außer
seiner Frau darf ihm niemand etwas sagen; es
ist aber selbstverständlich, daß alles ihm folgt.
Von seiner persönlichen Anspruchslosigkeit macht
man sich schwer einen Begriff: Kaffeehaus oder
Nachtlokale kennt er überhaupt nicht. Auch Lud¬
milla ist die Einfachheit in Person; ihr größter
Luxus ist, während der Vorstellung sich hie und
da ein Kilo Apfel oder Orangen holen zu lassen.
Außerhalb der Bühne leben die beiden nur für
ihre Kinder.
Materiell haben Pitoeffs ziemlich zu kämpfen;
im vorigen Sommer mußten sie in Paris bleiben
und mit vierzig Franes täglich auskommen. Die
Kinder waren bei Verwandten und Bekannten
untergebracht. Als Rettung kam in letzter Stunde
ein Filmantrag; das Auftrittshonorar ermög¬
lichte ihm überhaupt, die Saison zu beginnen.
Einige verlockende Anträge hat er abgelehnt —
aus Angst vor der Seekrankheit. Der arme
Pitoeff leidet sehr unter starken Kopfschmerzen.
Narkotika verschmäht er, und als Gegenmittel be¬
nützt er einen Gummihammer, mit dem er
stundenlang seinen Kopf bearbeitet.
Als Lehrmeister ist Pitoeff unschätzbar. Man
probt durchschnittlich fünf Stunden täglich: von
zwei Uhr nachmittags bis sieben Uhr. In diesen
fünf Stunden wird kolossal viel geleistet. Wenn
die kommende Saison so gut wird wie die ab¬
gelaufene, können wir — wenigstens künstlerisch
zufrieden sein.