II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 17

die Wiener Lebejünglings Jugend von vor zwanzig
Jahren. Er ist beinahe ehrwürdig geworden. Wer ist
denn dieser Anatole eigentlich? Ein wohlerzogener
wohlgekleideter, wie es scheint auch wohlgestellter Herr
der zwischen Poesie und Musik herumflaniert
Anatole lebt nur, um zu lieben — ein Teil seiner
Freundinnen liebt, um zu leben. Anatole ist einer,
der holden Illusionen nacheilt, um sie zu haschen
den Schmetterlingen und den Seifenblasen der Liebe.
Er ist klug genug, um einzusehen, wie dumm das ist
aber nicht klug genug, aufzuhören. Neben ihm
schreitet sein Freund Max durchs Liebesleben, wie
Mephisto neben Faust oder wie Carlos neben Clavigo.
So ungefähr bloß. Max ist die personifizierte ironische
Vernunft, die Weltmannsweisheit, der den Dingen
überlegene, ihnen bis auf den doppelten Boden
schauende, sie durch Erkennen aufhebende Geist. Dabei
ein sehr liebenswürdiger Gesellschafter. Anatoles
romantischen Phantasien setzt er seine kühle Beobach¬
tung des Tatsächlichen diskret entgegen und wartet
sein ab, bis alles schön ausgebraust und bis zu
Ende geliebt ist. Dann zieht er die unmoralischen
Schlußfolgerungen und überflüssigen Nutzanwendun¬
gen. Oft nur mit einer wegwerfenden Geste, was ja ge¬
nügt. In der „Frage an das Schicksal soll
ein in hypnotischen Schlaf versenktes „süßes Mädel
um ihre Treue befragt werden. Anatole wagt es nicht,
die Frage an die holde Schläferin zu richten, er weckt
sie lieber unbefragt auf. Aber wie erschrickt die holde
Schläferin nachher, da sie glaubt, sie wäre befragt
worden! — In den „Weihnachtseinkäufen
beneidet eine mondäne Frau, die nicht den Mut fin¬
det, zu lieben, wie und wo sie gerne möchte, dass
süße Mädel" um ihr kleines Vorstadtglück und schickt
ihr ein paar Veilchen. — „Abschiedssouper ist
schon öfters gespielt worden. Die kleine Ballerine im
Séparée. Drolliges Auseinandergehen. Man erzählt
sich zum Abschied, als Dessert der Liebe, daß und
wie man einander betrog. — „Episode". Feinste
Tragikomödie. Anatole bewahrt die zärtlichsten Erinne
rungen an eine träumerische Stunde, und sie, die
Bianka aus der Zirkusmanège, hat alles total ver¬
gessen — den Freund, die Stunde, das Klavier mit
samt der Ampel. Wie weggewischt! — „Anatoles
Hochzeitsmorgen". Ilona will ihn nicht zur
Trauung lassen. Sie entläßt ihn zuletzt doch in die
Ehe, weil er ihr ja dann noch viel gewisser und sicherer
ist als unvermählt. Anatole heiratet also. Anatoles
Glück und tragisches Ende. Der Junggeselle Anatole
stirbt. Anatole, der Ehemann, ist nur der verbreitert.
Schatten, das verfettete Gespenst des so seligen Ana¬
tole. Es ist, als ob Don Quixote oder Hamlet oder
irgend sonst ein Held heiratete. Das ist sein besiegelten
Untergang. Das Ja am Traualtar bedeutet die Ver¬
neinung seiner ästhetischen Möglichkeit, die Vernichtung
seiner künstlerischen Existenz. Deshalb schließt auch
der Zyklus damit, er muß folgerichtig damit schließen
Herr Kramer war ein sehr liebenswürdiger und
glaubhafter Anatole. Herr Lackner überraschte durch
einen leichten, hübschen Konversationston. Auch das
Deutsche Volkstheater ist ein Klein=Paris und bildet
seine Leute ! Die Damen Hannemann, Reinau,
Glöckner, Müller und Galafrés boten fünf
reizvolle Charakterbilder en miniature. Eines davon
besonders herausloben, hieße den anderen vier
kränkendes Unrecht tun. Alle fünf Stückchen wurden
munter und beweglichen Geistes heruntergespielt.
Völlig schwerelos, ohne plumpe Nachdrücklichkeiten und
lästige Unterstreichungen. Der junge Schnitzler ist im
Deutschen Volkstheater gut aufgehoben.
box 8/4
4.9. Anatol
Zyklu-

Telephon 12.801.
4
OBSERV
1. österr. beh. konz. Unternehmen für Zeitungs¬
Ausschnitte und Bibliographie.
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New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
lange aus der
Ausschnitt aus: Wiener Mittags=Zeitun¬
5. 12. 1910
um
wenigen Vorrathener Ehe
nant, in alhier an= und Benz,
Eine hübsche Laune des Zufalls (oder absichtlicher Ver¬
kettung?), dieses leichtbeschwingte, sentimentalisch flatternde
Liebesspiel, diese graziösen, amüsant fragilen Dialogszenen,
hart an den Schlußpunkt der Schnitzlerschen Muse zu rücken,
Meißner Porzellanfigürchen neben das Monstermonument des
„Medardus mit den Haubitzen, Fahnen und Hellebarden.
Fünf Einakter, von den sieben des Buches, bringt der
„Anatol=Abend im Deutschen Volkstheater: „Eine Frage an
das Schicksal", „Weihnachtseinkäufe", „Abschiedssouper,
„Episode", „Anatols Hochzeitsmorgen". Herr Kramer
schreitet mit seiner anmutigen Liebelust, immer ein bißchen
Schwermut im Freudenkelch des Schwerenters, immer ein
bißchen anders gemischt, auf leichten Sohlen durch alle fünf
Anekdoten. Herr Lackner geleitet ihn, mit einer knappen,
kurz zupackenden Manier, ganz vorzüglich als nüchterner
Ironiker mit dem leichten wienerischen Einschlag. Fünf
Damen aus dem Schönheitsreigen dieser überreichen Bühne:
Hannemann, Reinau (bei allen Göttern, die ent¬
zückendste von allen), Glöckner (die humorvollste,
Müller, Galafres. Es war eine fröhliche Auf¬
erstehung.