II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 53

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4.9. Anatol - Zyklu-
Mathilde Sussin, längst von Ibsen her als eine
schweigende Schwester wertvoll unsrem Gedenken ver¬
haftet. Eine von den Schattengestalten dieses größten
Theaters der Unscheinbarkeit, der Seelen. Jetzt
war sie ein Bühnenfrauenzimmer; „Annie". Vor dem
Abschied. Hundeschnauze. Rüdig; tonlos sicher. Ein
unbeirrbares Stücke Pöbel. In dieser Unbeirrbar¬
keit, in diesem stählern unverrücklichen Im Rahmen¬
Bleiben: ersten Ranges.
Und die tiefste Episode der Wurzen (die, welche sich
seiner nicht mehr erinnert), die Bianka, so durch Reifen
springt, das war Fräulein Hilde Herterich.
Sie hat gewissermaßen eigentlich nicht mitgespielt
aber sie ist dagewesen. (Mehr soll sie kaum.) Sonst
ist sie regenfrisch und frühlingsfest und ein Elementar¬
geistmädel.
Und zum Schlusse die Triesch, ein letzter Nachtgast
wie tief ulkig in
am Morgen vor der Hochzeit
dieser aufdringlichen Art, im falschen Lieblichsein, im
Schmierenton... als spräche sie mit jedem Glied:
„So ist das Kleben!..
Jenseits von allen: der Max, der Freund, der
Betrachterich, der Lächelnde, mit einem Wort:
Reicher.... Ausgesehn hat er ja manchmal
ein Cafetier — aber gesprochen, Dinge gebracht, Zu¬
stimmungen geblinzt, Einwände geschwiegen... wie ein
Meister... wie dieser Meister.
Schnitzler kommt mit seinem späteren Schaffen, nehmt
alles nur in allem, gleich hinter Hauptmann für unser
Drama.
Und das Ganze dieses Anatol=Abends war: etwas
Entzückendes. Ohne Weichlichkeit.
Vorbildlich, was in dieser Darstellung alles heraus¬
gearbei... nein herausgehoben worden ist. Wie
immer: alles vom Grunde. Wie bloß hier. Alles
Gerüst und alle Linien, mit allem schimmernd ver¬
dämmernden Fleisch.
Ohne Mumpitz. Ohne Ablenken. Ohne farbige Ver¬
kafferung. Ohne Mehlspeis à la Rizinus.
Mit dieser Menschen=Richtung sollt ihr es halten.
Hier liegt, laßt euch nicht dumm machen, die Zukunft.
Und ich wünsche nicht die erhebende Linie des
neuen, des von uns mitgeschaffenen neuen Menschen¬
kunstwerks — nicht einmal zeitweilig — im Panoramen¬
kitsch und in der Gefälligkeit enden zu sehn. Ihr auch
nicht? Haltet euch danach.
Alfred Kerr.
Nestroy: „Der Zerrissene".
Neues Schauspielhaus.
Die Figur des „Zerrissenen“ ist komplizierten Ursprungs.
Sie stammt von Raimund, und gehört trotzdem in jedem
Atemzug zu Nestroy. Sie kam aus der psychopathischen Re¬
gion, in welcher die Flottwells und Rappelköpfe sich aus¬
toben, und im Sanatorium des schärferen, lebensfrischen
Geistes genas sie. Herr v. Lips, der blasierte Millionär, hat
es nicht mehr nötig, mit Wald= und Wiesengeistern Kon¬
ferenzen abzuhalten oder sich von seinem Ebenbild be¬
ängstigen zu lassen, um über Glück und Geldeswert etwas
normaler zu denken. Nestroy läßt ihn Dummheiten machen
und durch höchst solide Kuren, wie einen unfreiwilligen Sturz
ins Wasser und seine tragikomischen Konsequenzen, wieder
gescheit werden. Alle geisterhaften Zustände finden ihre
höchst natürliche Erklärung, und wenn der angeblich er¬
soffene Herr v. Lips zum Entsetzen unwürdiger Erben das
Testament heimlich abändert, so spürt man es genau, daß
ein sentimentales Raimund=Gemüt nie auf diese Possen¬
diabolik verfallen wäre. Selbst Bühnenversenkungen, die
mit dem totgeglaubten Schlosser allerlei Spuk treiben, ge¬
winnen als glaubhaft motivierte
naturalistischen Anstrich.
Darum ist Nestroy noch kein
Momenten sieht man sogar ein
Theater, aber die schnurrigen Gest
verstand, sie agieren sehr bewußt
schöpfe eines Dichters, der bloß der
reißer zu sein. Herr v. Lips ka
klug reden. Er durchblitzt die Lu
aphoristische Wendungen, er könn
nähren, wenn ihm die braune K
geholfen hätte.
Die Peitsche Nestroyscher Satir
die Komik seiner Situationen ist
man sollte nach einem Jahrhund
und mühsam verworrener Ehel
Quell der Laune öfters zurückkel
Man hatte die Auffrischung
Halm nicht zu bedauern. Es wa
dort gespielt wurde, eher Bendix
in der Behäbigkeit präparierter
steller doch allmählich, wenn an
richtigen Stil, der eine wirkliche
grotesk aufgetragener Tonarten v.
Besetzung des Herrn v. Lips mi
des seelisch zerrissenen Biederme
Wortspiel schwer ausweichen, ger
Und er zerblies bei sachter B
während Willi Thaller z. B. selb
unerhört lustigen Zungengalopp
Madame Schleier der Ida Wüst
sich selbst zu parodieren und der
Vergnügen bereitete Herr Emil L
schen Bauern, der seine Unter¬
bringen will. Er spielte ihn w
Gestalt, älpisch verschmitzt und ver¬
stimme jedes Wort hervorwimmer