II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 60

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4.9.
1 - Zykl

New¬
burg, Forchte.
(Quellenangabe ohne Gewähr.
Ausschnitt aus:
von
Neue Züricher Zeitung

Es gibt deren nur drei: den Liebhaber Anatol, der
sich zur „Liebelei", wie Richard Wagners „Träume
Freund Max und Eva — die Geliebte in unendlicher
Feuilleton.
zum „Tristan". Das liebe süße Mädel hat erst in Chri¬
Metamorphose, das Weibchen, das bald Cora, bald
stine Weiring seine vollwertige, unvergängliche Ge¬
Bianca, aber immer Eva heißt. Anatol war in der
staltung erhalten; von ihr aus fällt ein poetisches
Berliner Theater.
Darstellung des Lessing=Theaters mindestens um
Licht auf Anatols leichtblütigere Freundinnen zurück.
Es ist das vierte Mal seit Eröffnung der Spiel
zehn, Max mindestens um dreißig Jahre zu alt. Wir
Anatol selbst freilich ist für alle Zeiten gezeichnet: der
zeit, daß sich Otto Brahm, Leiter des Lessing=Theaters,
sahen zwei mit allen Hunden gehetzte Wiener Lebe¬
leichtsinnige Melancholiker, der ironische Genießer
in ihrem vierten Monat zum Worte meldet. Welch¬
männer, von denen der eine nel mezzo del cammir
— ein vorwiegend österreichischer Typus, in aller Fad¬
Heldentaten hat er bis dahin vollbracht? Er begann di nostra vita, der andre schon auf der Schattenseit
heit liebenswürdig. Max, der Freund, ist daneben
diesmal mit einem ältern Hauptmann: den „Ein¬
stand. Ich muß gestehn, daß für mich viel von dem
nur ein Stichwortbringer, der herkömmliche confi¬
samen Menschen"; ließ des greisen Björnson forciert Duft der Dialoge, von ihrem spezifischen Parfüm
dent, die Grammophonplatte, die mitfühlende Brust,
lebfrisches Lustspiel vom jungen Wein folgen; hielt verloren ging. Es war Crabapple, und es sollte New
der Anatol seine Erlebnisse anvertraut. (Uebrigens
es für seine Freundespflicht, einem schon in Wien
mown hay sein. „Also spielen wir Theater, spielen
stört mich mitunter diese Wiener Sucht, alles auszu¬
sang= und klanglos bestatteten Drama von Georg
unsere eignen Stücke, frühgereift und zart und trau¬
plaudern, von der Heimlichkeit der Liebe gar nichts
Hirschfeld („Das zweite Leben") zu einem Berliner
rig ...", heißt es in dem programmatischen Prolog
für sich zu behalten. Diese Wiener Lebejünglinge ken¬
Begräbnis erster Klasse zu verhelfen; und ist jetzt bei
zu diesem weichen Wiener Liebesbrevier. Frühgereift
nen offenbar nicht den Reiz einer vita privata und
dem längst bekannten, längst geschätzten Dialogy. Darauf kommt es an. Verfallende Jugend muß auf
fühlen sich nur wohl, wenn sie einen Leporello an ih¬
klus „Anatol“ von Arthur Schnitzler ange¬ der Bühne stehn, aber nicht konserviertes Alter, rer Seite haben, der genau über ihre Abenteuer Buch
langt. In einem Vierteljahrlieren
Jung=Wien mit altersmüder Geste. Schon die Wil¬
führt und in ihre Seelenregungen eingeweiht ist.
— wohlgemerkt von Werken, für die Berlin nicht kelkinder in Wien neigen zur Reflexion; die Jüng
Wahrhaft lieben aber heißt: keinen Mitwisser haben.)
Anfangs=, sondern Endstation war — und zwei Neu- linge verfügen über die Weisheit von Geronten.
„Und worin löst sich bei dir das Rätsel der Frau
einstudierungen. Ein bißchen wenig, will mir scheinen
Halbes Empfinden gibt ihren erotischen Abenteuern
In der Stimmung." Auch das Rätsel der Wirkung
Man müßte an Arterienverkalkung leiden, wollte man das Gepräge, weil ihres Wesens andere Hälfte an¬
eines Kunstwerkes löst sich in der Stimmung. „Was
solchen Quietismus als künstlerische Initiative, als
Denken gekettet ist. Frühreife darf nicht durch Johan¬
ist Wahrheit? In Sachen der Religion: die überlebte
Wagemut und Unternehmungsgeist bezeichnen.
nistrieb ersetzt sein. Immerhin, die fünf Geliebten
Meinung. In Dingen der Wissenschaft: die letzte Ent¬
Aber selbstverständlich entscheidet nicht die Zahl
machten wett, was der Liebhaber und sein Freund deckung. In der Kunst: unsre letzte Stimmung." Un¬
sondern der Wert des Geleisteten. (Am Stadttheater
schuldig blieben.
sere letzte Stimmung war der ersten Schöpfung Ar¬
in Kottbus wird vielleicht im Laufe einer Woche so
Doch ist wirklich der „Anatol", das graziöse Prä¬
thur Schnitzlers nicht mehr so hold wie früher; aber
viel bewältigt, wie am Lessing=Theater im Laufe eines
ludium zu Schnitzlers Schaffen, von solcher Bedeu¬ es ist doch ein besondrer Genuß, diesem wählerisch
Vierteljahres.) Während das Wiener Burgtheater alle
tung, daß man jetzt, nach fünfzehn Jahren, gleich ein
pointierten, wiewohl gelegentlich etwas zu aphori¬
Kraft und alle Kräfte für den jungen Medardus ein
Quintett dieser Plaudereien hervorzieht, währen
stisch oder feuilletonistisch gespitzten Dialog zu lau¬
setzte, wärmte Brahm den alten Anatol auf. Ein
man sich früher mit den bühnenwirksamsten Stücken
schen, und wenn uns der Inhalt dieses zahmeren
musterhafte Vorstellung hätte die reaktionäre Wahl
begnügte? Wahre Bedeutung gewinnen sie erst durch
„Reigens nicht mehr wie einst ergreift: die Form,
erklären und verklären können. Zu spielen ist daran die „Liebelei. Denn (si parva licet componere ma
bleibt eine „joy for ever.
nicht viel. Die Schauspieler müssen die Figuren sein
gnis) Arthur Schnitzlers Anatol-Dialoge verhalten
4. Dez.
M.