II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 84

4.9. Anatol

klu-
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des einen Triebs bewußt. Ein Dichter von Schnitzlers Geist und
Kulturgefühl läßt die Geschöpfe seiner Phantasie und die Objekte seiner
Beobachtung unaufhörlich das Tier mit den zwei Rücken spielen oder
sich zu dieser Beschäftigung rüsten oder sich von ihr erholen oder
sich, im besten Fall, vergeblich nach ihr sehnen. Im Laufe eines solchen
Abends wird mit keiner Sterbenssilbe angedeutet, daß die Zeit nebenbei
noch andre Nöte und Ideen, Strömungen und Ziele hat. Das ist eine
Welt, das heißt eine Welt! An sich ist dieses Welthen sicherlich mit
Meisterschaft gezeichnet. In einem sechsten Akt wird von der Auf¬
richtigkeit ermüdeter Lügner gesprochen; und wenn Anatol sie auch nicht
hat, sondern durchaus nicht müde wird, zu lügen, so ist es doch diese
Stimmung von ironischer Wehmut und melancholischer Heiterkeit, die
dem Zyklus die psychologische Wahrheit und die künstlerische Einheit
gibt. Wir schlendern behaglich um die Liebe im allgemeinen, unter¬
scheiden im besondern die Liebe der Nähterin und der anständigen
Frau und der Balleteuse und der Reifenspringerin und der pro¬
fessionellen Amoureuse, erfahren, ohne überrascht zu sein, daß weder
Männer noch Frauen monogam sind, und wünschten für eine dra¬
matische Steigerung nur, daß Anatol, dem jede Frau, mehr oder
weniger schnell, sexuell langweilig wird, genügend Ressourcen in sich
hätte, um uns nicht in jedem Falle noch schneller langweilig zu werden.
Diese Gefahr hat Schnitzler, tief, allzu tief in sein Weltchen ein¬
gesponnen, ganz und gar übersehen: daß sein Anatol, im Geiste
schwach, im Herzen arm, auch als bloßer Liebhaber, als Viven
im oberflächlichsten Sinne kein genügend reizvolles, launenhaftes,
schillerndes Exemplar seiner Gattung ist. Nach einer halben Stunde
kennt man ihn auswendig; dann wird er immer unerträglicher. Es
ist nicht verwunderlich, daß die deutschen Theaterdirektoren sich seit
achtzehn Jahren darüber klar sind. Aber es ist sehr verwunderlich,
daß der klügste von ihnen sich darüber hat unklar werden können.
Dazu war es eine schlechte Aufführung. Gerade das, was für
die dramatische Sterilität hätte entschädigen müssen: ein Hauch von
wienerisch süßer Stimmung, von lächelnder Sentimentalität, von der
Grazie einer leichten Lebensführung — gerade das, aber noch viel
mehr fehlte. Je häufiger man Herrn Monnard in tragenden Rollen
sieht, desto neidischer wird man auf die Besucher des münchner Hof¬
theaters, die ihn nicht mehr sehen. Er gab den Ton von Ueberdeut¬
lichkeit an, der die ganze Vorstellung vergröberte, und der früher in
diesem Hause nicht möglich gewesen wäre. Aber den Ton für die
Figur fand er nicht; und nachdem er ihn lange genug vergeblich ge¬
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