II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 125

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4.9. Anatol
Zyklus
als zu lieben und küssen, was sich lieben und küsse¬
Diese beiden Helden
erscheinen in allen fünf — eigentlich sieben — nur die süßen Mädel
wechseln.
Herrn Monnards Anatol war beinahe ein liebenswürdiger Mensch, einer,
dessen Schwachheit eine Abart der Gutmütigkeit ist, einer dessen Leben
nicht viel, aber doch noch etwas Sinn hat, und der gewiß ein ganz guter
Stiefelputzer in New-York geworden wäre, wenn er nicht unglücklicherweise
von seinen Eltern zu viel Geld geerbt hätte. Mitleidig lächelt man ihm
zu, wenn man sieht, wie von Akt zu Akt sein anfangs lockiger Scheitel dünner

und dünner wird, wie er jedem der kleinen Mädchen einen Teil seines Haupt¬
schmuckes weihen muß, bis er schließlich auf der unendlichen Stirn nur noch
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ein dürftiges Sträuchen Haar findet, das einsam schmachtend herunter
„OBSERVER
zur rechten Augenbraue winkt. Und die fünf Mädel waren so frisch und
natürlich, wie — ach glücklich wer es nicht erfahren — sie im wirklichen Leben
der dabei an Unternehmen der Leitung
selbst dann nicht erscheinen, wenn sie ebenso gute Schauspielerinnen sind,
Wien, I., Concordiaplatz 4.
wie die Damen des Lessing=Theaters. Aber die echten Coras, Ilonas,
Vortretungen
Annies und Biankas sind meist recht talentlose Schauspielerinnen und
in Berlin, Basel, Budapest, Clenen, darunt, de
kränken recht oft durch ihre falsche Pose. Davon war im Lessing=Theater
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapol
nichts zu merken. Es waren drollige Kinder, die sich der melancholische Anatol
New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
zum Spiele ausgesucht hatte, die er belog und die ihn belogen. Und alle
burg, Toronto.
hatten ihren Spaß daran, auf der Bühne die Leutchen gewiß nicht minder
de
als die im Parkett. — Ungeschickt benahm sich nur der bedachtsame Freund
Ausschnitt aus:
Max. Der kam nicht aus einer lustigen eleganten Welt. Er sah in Emanuel
Reichers Physiognomie aus wie ein schwerhöriger kleiner Makler, der sich
9 12. 1910
gern von einer reichen Kundschaft freihalten läßt. Aber Herr Reicher kann
von
Schlesische Leitung er¬
spielen wie er will, seine vielen Vettern und Freunde lassen ihn hier nicht
fallen. Jede Stadt hat ihre Lokalgrößen, über deren Ansehen der vorurteils¬
chen hengen per
lose Fremde sich verwundert. — Und auch seine Lokalerfolge. Dabei denk
ich aber schon weniger an diesen Anatolzyklus, der sich wahrscheinlich jetzt auch
Berliner Theater.
die größeren Provinzbühnen erobern wird, als an eine andere Ausgrabung,
über die man hier ein großes Geschrei erhoben. Wenn die gelesensten
Einerenabend im Lessing=Theater gilt noch immer hierorts
Tageszeitungen enthusiastisch für eine Aufführung eintreten, so wird dadurch
für ein Literarisches Ereignis, obwohl eine bedeutsame Uraufführung sei¬
nicht nur die Masse des hiesigen Publikums zum Besuch angetrieben, sondern
Fahren nicht stattgefunden. Selbst zu solchen Zugstücken wie „Tantris der
in der Folge zieht das seine Kreise durchs ganze Reich. „Der Zer¬
Parr“ oder Wenn der junge Wein blüht, hat sich die Direktion Brahm
rissene von Nestroy ist hier im Neuen Schauspielhaus mit solchem
erst entschlosen, Nachdem sie anderwärts längst ihre Kraft erwiesen hatten.
großen Presse Erfolg in Szene gegangen. Zugegeben, daß diese Posse hier
Auch seine bedeutendsten Schauspieler, Rittner und Bassermann, hat da¬
Theater
in Norddeutschland noch nicht in solch Wienerischem Zuschnitt gesehen worden
oren, ohne dafür Ersatz zu finden, und der dritte Große, der
einst so
ist, — zugegeben, daß es kein schlechtes Stück Handwerksarbeit ist — ja,
liche Sauer, ist invalid geworden, und muß sich selbst auf der
Bühne
noch vielerlei kann man den Herren, die sich an Molière und Holberg erinnert
einem stützenden Krückstock behelfen. — Bleiben die Damen:
Frau
fühlen und auch die Literarhistoriker zur Remedierung ihres Urteils über
Triesch, die Gattin Frederik Lamonds, und Frau Else Lehmann,
zwei
Nestroy zum Besuch der Vorstellung auffordern, zugeben — aber nur dies
tägte Individualitäten, die eine zart und spirituell, voll Geist
und
nicht: daß ein gutes, sich selbst achtendes Publikum, wie es das Neue Schau¬
samkeit wie die Rahel Varnhagen-Levin, die andere deutsch
und
spielhaus hat, nichts besseres tun könnte, als sich bei solchen alten, uralten
e beste Kraft für Hauptmanns Dramen. Else Lehmann konnte
unser
Clownerien zu langweilen. Es ist nicht jedermanns Meinung, daß schlechte
lesischen Dichter noch mitunter hier einen Bühnenerfolg erringen
— 3
Witze besser werden mit dem Alter. Bei der ersten Wiederholung am Sonn¬
nit der Rose Berndt — auch wenn sich nirgends sonst seine Dich¬
tung
tag lief fast die Hälfte der Zuschauer nach dem dritten Bilde hinaus, in der
m Theater anpassen wollten. Übrigens ist die Hauptmann¬
pren
Annahme, nun müsse die Sache zu Ende sein. Es kam aber noch ein ganzer
stets das aufregendste Theaterspiel der Saison, wozu die Plätze
Akt. Die Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit des Publikums findet sich
trotz
pelter Preise Monate voraus vergeben sind — bis zum Januar ver¬
school
nirgends öffentlich vermerkt, und so kann die Direktion melden, daß infolge
worden. Es wird ein Berliner Stück, über das schon vor Jahren
Ger
des starken Erfolges von Nestroys Posse „Der Zerrissene der Spielplan
te umgingen, sein: Die Ratten heißt es.
zugunsten dieses Stückes abgeändert werden mußte". Und so siegt Nestroy
ächst Hauptmann gilt wohl, wenn das Gesamtschaffen bewertet wird
heute wie ehedem über Hebbel.
Seger.
Art er Schnitzler für den bedeutendsten unserer Theaterdichter. Und auch
were kommt hier in Berlin nur das Lessingtheater in Betracht.
In Wien hat man kürzlich ein großes historisches Schauspiel von ihm auf¬
geführt. Aber dieses — Der junge Medardus — mochte wohl
Herrn Otto Brahm als ein zu kostspieliges Wagnis vorkommen. Es schildert
die Wirren in Wien nach dem Tiroler Aufstand und bedarf eines ganz
ungewöhnlich großen Schauspielapparates. Statt des jungen Medardus
also wurde eine andere Sache hervorgesucht, vielleicht nur um den ungedul¬
digen Dichter zu beruhigen: „Anato!" — sein Erstlingswerk! Ein
Zyklus von Einaktern, die zum Teil schon oft gespielt worden sind, aber noch
nie als ein Abend füllendes Stück im Zusammenhang gegeben, obwohl
sie nun fast achtzehn Jahre alt sind. Man muß sich darüber wundern, denn
der Erfolg dieses Anatolabends war unbestreitbar. Anatol und Max, das
sind zwei weltweise Lebemänner, die nichts zu tun haben augenscheinlich