II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 150

4.9. Ana¬
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yklus
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Das Nebeneinander kriegerisch=unsentimentaler und schwelgerisch¬
empfindsamer Stimmungen wirkt als appetitreizender Kontrast; ebenso
das harte Nebeneinander der bürgerlichen und der hocharistokratischen
Welt, der hemmungslos expansiven, nach außen schlagenden und der
hösisch-gebundenen, nach innen brennenden Temperamente. Höchst
bemerkenswert auch die Geschicklichkeit, mit der das Drama abwechselnd
Einzel=Schicksale und Schicksale der Allgemeinheit in den Mittelpunkt
des Interesses lanciert: Wo der Dichter unbedeutend wird, tritt irgend
eine weltgeschichtliche Bedeutung, die Szene füllend, in den Vorder¬
grund und deckt den Dichter.
Kriegerisch=prunkstrotzende, förmlich schmetternde Kostüme und die
steif-lyrischen Trachten des Jahrhundertanfangs, prangend in zartesten
sentimentalen Farben, erfreuen das Auge. Auch das Ohr kommt nicht
zu kurz. Man schießt mit Kanonen, mit Flinten, mit Revolvern. Man
schießt rechts und links, Granätlein explodieren zierlich, und zwischen
Feuer und Schall verstreicht eine höchst naturalistische kleine Pause.
Für die Aufführung des „Medardus hat das Burgtheater wirklich sein
ganzes Pulver verschossen.
Auch schauspielerisch. Aus der Fülle der Gestalten bewahrt man
im Gedächtnis: Hartmanns edlen Thronprätendenten, Balajthys tref¬
lichen, saftigen Eschenbacher, der Frau Bleibtreu starke, unzaghafte
Mütterlichkeit, der Frau Medelsky rührendes Agathchen, Straßnis
gespenstisch-frohen uralten Herrn, Heines meisterhaft kühlen und klugen,
Schicksal spielenden Arzt, Treßlers empfindungstiefen, in Ton und
Gebärde so nobel sparsamen Freund des Medardus (für mein Empfin¬
den eine ganz leere, verunglückte, zu Recht hinkende Figur), Arndts
bitter-ironischen Arzt, Fräulein Hofteufels leichtfüßige, immer wie von
Lebenslust gekitzelte, in den Unfug verliebte Zofe.
Protagonisten: Herr Gerasch und Fräulein Wolgemuth. Ich
glaube, man hat diesmal beiden ein bischen unrecht getan. Flamme,
an der man sich wärmen könnte, war nie Herrn Geraschs Sache.
Aber er hat als Medardus doch ein sehr schönes Tempo, hat Schwung
und Leidenschaft und manchmal, wie auf der schönbrunner Treppe,
einen großen Augenblick, in dem man aus seinen Erregungen das
Sturm=Trommeln eines revoltierenden Herzens zu hören meint.
Fräulein Wolgemuth, imponierend durch den Adel ihrer Erscheinung,
wird vielleicht ein wenig überschätzt. Noblesse, Kühle, Unnahbarkeit,
Verachtung mit sie unübertrefflich gut. Wo es auf mehr ankommt,
auf das Durchschimmern der innern, nur gedrosselten, nicht verlöschten
Flammen, auf Botschaft aus den Tiefen dieser spiegelglatten Prinzes¬
sinnen=Seele, da fehlten die rechten Lichter und Klänge. Ob Fräulein
Wolgemuth eine wirklich bedeutende Künstlerin ist, wird sich noch er¬
weisen. Im „Jungen Medardus merkte man nur, daß sie über die
schönsten Mittel verfügt, um Bedeutung zu markieren.
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