II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 265

Bitte Rückseite beachten!
Telephon 12.801.
De¬
„OBSERVER
I. österr. behördl. konz. Unternehmen für
Zeitungsausschnitte
Wien, I., Konkordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Basel, Budapest, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-York, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
(Quellenangabe ohne Gewähr).
Ausschnitt aus:
Reichenberger Zeitung, Bei¬
vom
M. Abendblatt
Theater.
Aus dem Londoner Theaterleben.
London, Anfang März.
Die Aufführung der letzten Szene aus
Artur Schnitzlers „Anatol"-Zyklus
„Anatols Hochzeitsmorgen" (in
der ausgezeichneten englischen übertragung
Granville Barkers: „Anatols Wedding
Morning") entfesselte in der brillanten Wie¬
dergabe am Palace-Variété einen enthusia¬
stischen Erfolg, der den der beiden früher
gebrachten Szenen „Die Frage an das
Schicksal" und „Abschieds=Souper" bei wei¬
tem übertraf. So matt die Darstellung vom
„Abschieds=Souper in der vergangenen
Woche gewesen war, so flott und glänzend
gestaltete sich das Zusammenspiel beim
„Hochzeitsmorgen". Die mise en scene, die
wir Granville Barker zu danken haben, war
höchst stilvoll, Barker selbst gab den „Hel¬
den" launisch und mehr wienerisch leicht¬
lebig als vorher und der ausgezeichnete Ko¬
miker Nigel Playfair, der in Maxens Uni¬
form famos aussah, rief eine Lachsalve nach
der anderen hervor.
Ganz entzückend war
die hochbegabte Miß Alice Grawford in der
dankbaren Rolle der Lona. Die junge Künst¬
lerin ließ uns London, das Palace-Variété
und sein rauchendes Publikum vergessen und
am Schlusse glaubten wir wahrhaftig, einer
deutschen Vorstellung beigewohnt zu
haben. Es bedeutet für uns eine freudige
Enttäuschung, daß der „Hochzeitsmorgen
mit seinen für den hiesigen Geschmack ge¬
wagten Situationen und dem satirischen
Beigeschmack so stark eingeschlagen und ge¬
zündet hat; danach zu schließen, dürfte das
mutige Unternehmen Barkers für die
hiesige Variété-Bühne noch wichtige Folgen
zeitigen.
Auch der sich stetig steigernde Erfolg von
Friedrich Freksas „Sumurun" am Coli¬
seum ist recht erfreulich. Das riesige Haus
ist Abend für Abend ausverkauft und die
hiesige Presse wird gar nicht müde, das
Werk und die Darstellung zu preisen. Sehr
bemerkenswert nach dieser Richtung hin ist
ein langer Artikel in der „Times", wo es
unter anderem heißt: „Ein ähnliches Wun¬
der ist sicherlich noch nicht zuvor in London
gesehen worden! . . . . „Sumuun" gibt
uns nicht allein eine Groteske, es erfüllt
uns nicht allein mit Vergnügen — nein, es
übt einen wahren Zauber aus. Wie es
heißt, soll sich Max Reinhardt mit Plänen

zen einstellen wollen, so hoffe ich, daß Sie
Gott auf der Bühne vom Schlage rühren
lassen wird!“ In einer anderen hoffnungs¬
vollen Epistel sagt der Schreiber: „Die Zeit
kommt, wo der Applaus aufhört, wo es keine
Blumenkörbe mehr gibt und wo Ihre Ver¬
dammung ausgesprochen wird, weil Sie
Gottes Worten nicht gehorcht haben. An¬
dererseits aber hat Miß Allan ganz ent¬
zückende Anerkennungsbriefe von katholi¬
schen und anglikanischen Geistlichen erhalten,
die voll von Bewunderung über ihre Kunst
sind.
Aber auch das ernste Drama ist in
den letzten Tagen hier mehr zu Worte ge¬
kommen, als es sonst der Fall in London ist.
Am Curt Theatre wurden zwei „Privat¬
Aufführungen von Oskar Wildes „Sa¬
lome" veranstaltet, die Lob verdienen. Be¬
kanntlich gestattet die hiesige Zensur die
„öffentliche Aufführung des verfehmten
Werkes (der Autor ist hier womöglich noch
verfemter, man wird bei seiner bloßen Na¬
mensnennung schon blaß und nervös!) Die
„Privat-Aufführungen werden nur für
„geladene Gäste" gegeben — so schreibt es
das Gesetz vor. In Wirklichkeit können auch
„nicht geladene Gäste Zutritt sich verschaf¬
fen, wenn sie vorher Karten erstanden haben.
So bekam man jetzt wenigstens eine „reine
Salome ohne die Verballhornung seitens
der Zensur zu sehen, durch die sich der Lord
Chamberlein in den November= und De¬
zember-Aufführungen an der Covent Gar¬
den Oper unter Thomas Beecham für alle
Zeitalter unsterblich gemacht. Damals durfte
das Haupt des „Propheten“ (so hieß Jocha¬
naan in der Verballhornung) nicht auf der
Bühne erscheinen, sondern nur — eine mit
Blut gefüllte Schüssel. (!) In der jetzigen
Darstellung am Court Theatre wurde der
Kopf auf die Bretter gebracht — es ist ja
doch nur eine „Privat-Aufführung ge¬
wesen! Man sollte derartiges vom freien
England im Jahre 1911 nicht glauben!...
Einen der allerbedeutendsten Autoren
des modernen England, den eigentlichen Be¬
gründer des realistischen Dramas hier zu
Lande, John Galsworthy bekamen wir
am Coronet Theatre in dem packenden
Schauspiel „The Silver Box" (Die Sil¬
berdose) zu hören. Das Werk wurde von
einem Ensemble aus Manchester prächtig
gespielt. Mit furchtbarer Ironie kontrastiert
der außerordentlich begabte Dichter darin
die hoffnungslose Armut und den alles kau¬
fenden Reichtum Themse Babels. Er liebt
sein Volk und darum geißelt er es blutig.
Schon lange hat man nicht so rechte, er¬
schütternde und dabei von Humor sprühende
Szenen auf der hiesigen Bühne erlebt
Galsworthy hat sich in Deutschland bereits
vorteilhaft mit seinem gewaltigen Streik¬
drama „Strife" („Kampf"-Aufführung in
Köln) eingeführt.
Wie jetzt offiziell verlautet, findet im
kommenden Herbst eine deutsche
Opern-Saison am Covent Garden
Theatre (wohl als Entschädigung für den
gänzlichen Ausfall derschen Oper wäh¬
rend der Krönungs=Saison) statt, während
welcher der ganze „Ring=Zyklus zweimal
zur Darstellung kommt.
L. Leonhard.