II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 458

4.9. Anatol - Zyklus
Kammerspiele des Deutschen Theaters.
Arthur Schnitzler: Anatol
Ein alt gewordener Lebemann, Nichts=als=Lebemann, ist
für mich (ins Ohr gesagt man ist nicht gern unhöflich) nicht
gerade die berückendste Erscheinung unter den Zeitgenossen.
Nun ist Freund Anatol aber leider nichts als Lebemann und
leider auch alt geworden. Zwar als Einakter=Reigen noch
nicht schier dreißig Jahre, aber Bühnenjahre zählen min¬
destens doppelt, und so darf es nicht wunder nehmen, daß
Anatols Züge gestern etwas schlaff, seine Augen etwas trübe
erschienen und das Schädelrund stark durch die Haare ge¬
wachsen war. Fünf von den sieben Bühnenskizzen, die
Schnitzler 1893 unter dem Titel Anatol zusammengefaßt hat,
wurden gestern gegeben, um es gleich zu sagen, sehr gut ge¬
geben, aber wie kam es, daß das bekannte „Abschiedssouper
gestern auf mich nur matt wirkte? Hatte man es zu oft
gesehen? Einen tieferen Nachklang hinterließ dagegen
die Szene „Weihnachtseinkäufe" dank Lina Lassens
seelenvollem und schönem Menschentum, das dort, wo andere
sentimental wirken, eine tiefe Wehmut wie einen Seufzer, aus
dem Brunnenschacht der Welt, aus dem ewigen Schmerz, der
en heißt, herauszuholen schien. Sehr lustig war „Anatols
Hochzeitsmorgen wohl das Uebermütigste, was Schnitzler,
dem ein kleiner melancholischer Erdenrest sonst auch in seinen
heiteren Stunden zu tragen peinlich bleibt je geschrieben
hat. Hier erreichte auch das Zusammenspiel seinen Höhepunkt
in wirbelnder Verde, in tollster Ausgelassenheit und bis aufs
genaueste klappendem Fugenschluß. Alle Ahtung, Herr Jwan
Smith, vor Ihrem Regietalent auf diesem Felde!
Ueberblickt man die Kette dieser Einakter, so ist ein Ver¬
gleich mit dem Reigen nicht von der Hand zu weisen. Aber
wie etwas angefahrte Herren meist zotige Geschichten zu er¬
zählen wissen, als junge, so ist umgekehrt auch der Verfasser
des „Anatol“ weniger deutlich, als der des an Form und In¬
halt ähnlichen „Reigens". Anatol ist die eine männliche Ge¬
stalt, um die sich sieben Frauengestalten wie im Reigen drehen,
das Ganze ein Mikrokosmus der Junggesellenliebschaften, aber
in Anatol mit wienerischer Anmut und genußfroher Leichtig¬
keit so natürlich dargestellt, daß nur eine ungewöhnlich lange
Zensorennase darin etwas Unsittliches wittern könnte. Ge¬
mildert wird das Ganze überdies durch die Gestalt des Max,
in dem man eine Art Parallelle zu Sancho Pansa und zu
Leporello feststellen könnte. Er bringt die Späße wie ein
Automat, in den Anatol die Nickel seiner geistigen Währung
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hineinwirft. Aber Hermann Thimig, dem eigentlich
dieser Abend gehörte, schuf einen Menschen daraus, der auf
eigenen Füßen steht, einen ganz eigenen Typ, dem seine
Wurschtigkeit, seine Spottlaune und sein behagliches Grunzen
gleich allerliebst stand. Thimig ist einer der trefflichsten Hu¬
moristen, die wir gegenwärtig auf der Bühne haben, sein
Spiel ist allein ein Lustspiel und jedes geschriebene ist ge¬
rettet, in dem er eine Hauptrolle hat.
Anton Edthofer, der Darsteller des Anatol, wirkt
nicht so ursprünglich und nicht so frisch, seine Luftigkeit bleibt
mehr gedämpft, verschleiert, aber sie fehlt an den entscheiden¬
den Stellen nicht. Von den vielen Liebsten Anatols weiß
man wirklich nicht, wen man voranstellen soll, aber ich sche
soeben daß ich über die Schwierigkeit ja schon hinweg bin.
denn Lina Lossen wurde schon genannt. Auch von den
übrigen Darstellerinnen versagte keine. Margarethe
Cristians überraschte durch ihre fortschreitende Entwick¬
lung auch in der drastischen Gestalt der Annie beim Abschieds
souper, Stella Arbeninas fast akrobatische Höhe der Aus¬
gelassenheit wetteiferte mit der Tiefe der Ausgeschnittenheit
ihres Kleides; die Damen von Thellmann und von
Bukovics ließen es gleichfalls weder an Temperament
noch an Appetitlichkeit fehlen. Der Abend bedeutete dar¬
stellerisch einen ganzen, überarisch einen halben Sieg.
Karl Strecker.