II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 461

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4.9. Anatol - Zyklus
a
Kammerspiele: Erstaufführung von
Schnitzlers „Anatol
Bei Schnitzler brennen keine großen Leidenschaften, kein
nach uns die Sündflut kündet sich in dem spielerischen Hinab¬
sinken seiner Gestalten an und er findet auch da, wo er gesell¬
schaftskritisch auftritt, niemals die Kraft zur beißenden Satire.
Heute ist noch die Zeit der Schnitzler. Die Zeit der müden,
graziösen Spielerei mit dem Untergang, diese kleine Spanne, die
immer einer neuen starken Zukunft vorangeht, die Gegenwart
geworden mit einem Atemhauch das ganze morsche Gebäude
hinwegweht.
„Anatol!" Geschickt zugeschneidert für jene, die wie Anatol
Langeweile über dem Nichtsten bekamen und sich dann dieses
Theaterstück nach Suppe und Braten als gefälliges Dessert ser¬
vieren lassen. Man muß sich dabei den Kopf nicht zerbrechen,
der Dichter belastet Herz und Magen nicht mit unangenehmen
ethischen Forderungen. Im Gegenteil: Man kann eventuell
noch dazu lernen, wie auf eine angenehme Art und ästhetisch"
das Leben zu verbringen ist. Man bekommt die eigene Meinung
über die „wirkliche Dame und das „füße Mädel", das man
mit Austern und Sekt sich kauft wie irgendeine andere Ware, in
eleganter und amusanter Form bestätigt.
Die Aufführung entsprach dem Charakter des Stückes,
Sympathisch war Lina Lossen, die jene vielen, „die den Mut
dazu nicht haben ihrer Liebe wie das Mädel aus der Vor¬
stadt zu leben) in einer stillen und schologisch seinen Art ver¬
trat Hermann Thimig (Max) und Edhofer (Anatol) por¬
trätterten gut die „jeunesse doree", die geldene Jugend, die
anderen Schauspieler fügten sich in den Rahmen des Spieles,
L. K.
Kammerspiele.
Anatol von Arthur Schnitzler.
Durch fünf Stationen lächelt und zweifelt sich dieser junge
Mann von Welt, mit den Schmerzen, die er vorher weiß, mit den
Freuden, die er belächelt. Fünf Stationen, fünf Frauen. Sie
entgleiten es tut nicht sehr weh, aber jedesmal wird die fein¬
und schlanke Melancholie um einen Schatten dunkler.
Anatol ist nicht mehr von dieser Welt von Wien ganz zu
schweigen). Er nahm seine gedämpften Farben on der lauen
Ruhe einer Zerfallskultur, er hatte Zeit, er hörte auf die feinen
Geräusche des Lebens, das unmerklich vergilbte — vor dem
Krieg. Inzwischen hat er die „Schlamperei" abgeschüttelt und ist
ein forsches Mitglied des neuen Europa geworden. Ich sah ihn
neulich durch die Drehtür des Adlon sich mühen; er ist ziemlich
dick und soll beim Film beteiligt sein. Man darf auch annehmen,
daß seine Weibergeschichten endlich in Ordnung gekommen sind.
Längst ist ja das füße Mädel ausgestorben, auch Annie wird nicht
mehr so billig scheiden heute (von Frau Gabrielens undeutlich¬
keit ganz zu schweigen). Beneidenswerter Anatol, du hast von
einem besseren Frauenjahrhundert noch die Sahne geschöpft.
Dieser Mädelty, bei Murger und seiner Bohem beginnend,
süß, leichtsinnig und ein wenig sentimental, ist läng gefähr¬
licheren Dingen gewichen, — der Nutte, scharf, laut und gierig,
die das öffentliche Leben mit ihren teuren und groben Bedür¬
nissen umprägt, die Gesellschaft verbildet, die Schauspielerin
schlägt, den Mann roh und armselig macht.
Solcherart sind die betrübten Gedanken, wenn man heute
den Zauber des Anatol wieder spürt. Manches darin freilich an
geäußerter Seelenweisheit funkelt nicht mehr, manches glänzt,
ohne Gold zu sein, — aber die Melodie ist unvergänglich.
In den Kammerspielen, unter Iwan Shmiths Führung,
wurde diese Melodie nicht zur Grundkraft der Aufführung. Zwei
Möglichkeiten gibt es für „Anatol“ entweder in spielt ihn als
dämmiges Stück voll lächelnder Trauer, oder man spielt die
schnell abrollende Szenenfolge einer Komödie. Die Kammer¬
spiele boten von der ersteren den Mangel an Temps, von der
zweiten das Vorherrschen des Vorgangs über die Melodie. Am
tiefsten klang „Weihnachtseinkäufe, am besten rollte ab der
„Hochzeitsmorgen", der plötzlich wie von einer anderen Hand
eingeübt schien, einer flotteren, aber auch gröberen. Mißlungen
schien mir das „Abschiedssouper
Anton Edthofer als Anatol trug mit Anstand eine feine
Skepsis durchs Stück, aber er wirkt immer als ein Schauspieler,
der sein Letztes nicht hergibt — er hat jedoch alles hergegeben.
Am tiefsten tönte sein Dialog in „Episode". Hermann Thimig
als May, ein Stück von allzu geläufiger Gestaltung, war ohne
Einschränkung eine Wonne. Von den Frauen zunächst die
„Dame, die Lina Lossen spielte. Kann man sich mit so
knappen Strichen eine dunkelleuchtendere Gestalt denken, so voll
tagendem Lebensklang, so voll gehemmter Liebesbereitschaft, die
den Mut nicht hat? Hier wartete, in kurzen Minuten, ein
großes Gefühl. Von den Darstellerinnen der übrigen Frauen¬
rollen nenne ich Margarete von Bukowics, der ein Seelen¬
ton unverkennbar durchbrach. Von Fräulein Christians als
Annie ist das nicht zu sagen. Sie sieht wonnig aus, sie ist
immer geschmackvoll, damenhaft bis in die Fingerspitzen (was der
Annie nicht zugute kam, unendlich sympathisch als Gesamt¬
erscheinung, aber (wie sag ich nur ?) — ihr Lebensschwerpunkt
liegt nicht auf der Bühne.
F. Sieburg.