II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 484

4.9. Anatol
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Dr. Max Goldschmidt
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BERLIN N 4
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Ausschnitt aus:
Neues Wiener Tagblatt
5. März 1925
Josefstädter Theater. Zum erstenmal Anatol von
Artur Schnitzler. — Anatols Welt — diese Welt des
Wien vor dem Kriege — ist uns heute fremd und fast ungekannt
geworden. Von jenem Wien sind kaum mehr die äußeren Kon¬
turen geblieben: es ist zwar noch immer eine Stadt mit zwei
Millionen Einwohnern und doch nur mehr mit einer ver¬
schwindend kleinen Anzahl von Wienern. Aber Anatol selbst
ist noch lebendig; mag sein, daß der Typus als solcher sorgen¬
berufs- und bedenkenloser Genießer, mag sein, daß dieser Typus
in der heutigen Zeit nicht mehr existieren könnte: der Mensch
Anatol ist - wie jedes echte Kunstwerk — noch immer Gegen¬
wart, noch immer Fleisch und Blut; besonders wenn Waldau
diesen Anatol spielt. Es ist das ein schmeichelnder Reiz, eine
entzückend beschränkte, ein bißchen frivole, ein bißchen weh¬
mütige Liebenswürdigkeit, von der man wie von einer
betörend leichten und leichtsinnigen Musik umfangen wird.
Waldaus noble Anmut ist wie die Grazie des alten Wien
selbst, diese Grazie, die einen zuweilen vergessen machen konnte,
daß der Charakter dieser Stadt oft nichts war als eine
bequeme, verbindliche und für wohlhabende Leute äußerst
gemütliche Charakterlosigkeit. Waldau zunächst kommt Fräulein
Geßner, die Annie im „Abschiedssouper, durch und durch
echt, unbändig komisch in ihrer bodenständigen Urwüchsigkeit
und erfrischend ordinären Natürlichkeit. Wo Natürlichkeit nur
gemacht wird, wie von Fräulein Fein, in „Episode" wirkt
sie als Unnatur. Auch Frau Terwin trägt die Ilona in
Anatols Hochzeitstagen" wie ein „auf Glanz hergerichtetes
Kostüm aus dem alleren Wien. Den Max spielt der sonst so
interessante Herr Rainer mit einem mehr eingetrockneten als
trockenen Humor. Eine Fehlbesetzung. Ausgezeichnet Herr
Daghofer in einer Kellnerepisode, dann Frau Hagen in
„Weihnachseinkäufe. Die Regie führt diesmal Paul Kalbeck:
er sucht keine Effekte und findet die delikatesten Wirkungen.
-
J.
Sänger aus den gleichen Märchenzeiten.
Schnitzlers „Anatol“ bei Reinhardt.] Die
kleinen Stücke stehen nun im Repertoire dieser Bühne und sind
von Paul Kalbeck recht sorgfältig inszeniert. Die Aufführung
folgt bekannten Traditionen und gefällt dem Publikum an¬
scheinend ausgezeichnet. Bloß sollte man die vorgetragenen
Jugendtorheiten nicht gerade von Schauspielern reifer Jahr¬
gänge vortragen lassen. Waldau ist ein glänzender Darsteller,
aber dem Anatol doch zu entwachsen, um den Ton für süße
Dummheiten zu finden. Nicht anders Frau Fein. Selbst Frau
Urban=Kneidinger kann sich nur mit Anstrengung der
Cora erinnern. Einzig Fräulein Geßner spielte ein Schnitzler¬
Girl famos und sah auch so aus. Der Beifall war lebhaft.
— Im Burgtheater wird Freitag den 6. d. zu gewöhn¬
lichen Preisen die Komödie „Fenster von Galsworthy, deutsch
von Leon Schalit, gegeben. Es wirken mit die Damen Anay,