II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 494

4.9. Anatol
yklus
box 9/3
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BERLIN N4
Neue trois ou
März 1925
Theater= und Kunstnachrichten.
Schnitzlers „Anatol“ im Theater in der
Josef Nun hat Arthur Schnitzlers Einakterreihe
„Anatol“ wieder in das Theater in der Josefstadt heimgefunden,
der Stätte, von der aus, an den literarischen Abenden Jarnos,
diese von Geist, Laune und Anmut blitzenden Dialoge zuerst ihren
Weg — einen glänzenden Weg des damals nur von wenigen
geahnten Erfolges — genommen haben. „Anatol“ bei Reinhardt.
In dieses wienerische Haus, das auf kultiviertesten Geschmack,
auf Behagen, elegante Heiterkeit gestimmt ist, gehörten diese Lust¬
spielminiaturen längst, die dem naiven Theaterbesucher wie dem
feinschmeckerischen Genießer gleicherweise kleine funkelnd
barkeiten der wienerischen, fast möchte man jetzt schon so
altwienerischen Kunst bedeuten. Als vor dreißig
ren
oder ist es schon länger her, diese Bluette
pariserisierenden Geist mit heimatlichem Sentimen
per¬
einten, zuerst erschienen, war das junge Wien
damals entzückt. Hier war ein völlig neuer Ton angeschlage. Hier
war Grazie und Uebermut, die an die Proverbs des jungen
Alfred de Musset gemahnten. Hier war aber noch etwas
Besonderes, das einen zwang, diesem Dichter nicht bloß zuzu¬
hören, weil man ein starkes Talent, sondern ihm zu liebe, weil
man die reizvolle Menschlichkeit darin spürte. Ein Zauber war
darin, dem man sich auch heute nicht, denkt man nur an
„Anatol, den leichtfertigen Melancholiker, an den feinen Spötter
Max und an die süßen Mädchen“ Cora, Anni, Bianca und
wie sie sonst noch heißen mögen, nicht zu entziehen vermag. War
es die leichte Melancholie, die diese gewichtlos heiteren, kleinen
Szenen umflorte? War es die verhangene Poesie, die man aus
diesem scheinbar nur spielerischen Bekenntnissen spürte? War
es die Atmosphäre einer ganzen Gesellschaft mit ihrem Froh= und
Feinsinn einer ganzen Stadt, die einem durchaus entgegenwehte?
Was immer es gewesen: Jeder fühlte und fühlt es noch
hier waren von einem Künstler Bilder in neuen, zarten und
heiteren Farben festgehalten, hier war von einem jungen Können
der Lustspielform ausgesprochen, was jeder gern ausgesprochen
hätte und was fortan irgendwie nicht mehr vorgedacht werden
konnte. So empfand es das junge Wien von damals, ein noch
enger Kreis, und war entzückt. Aber niemand, und wahrscheinlich
am wenigsten der Autor selbst, der damals noch zwischen
Poesie und Literatur schwankte — die Autoren sagten, er sei
vermutlich ein vortrefflicher Arzt, die Aerzte meinten, er wäre
gewiß ein begabter Poet — nein, niemand hätte im Ernst

gedacht, „Anatol könne wirklich gespielt und sogar ein Zug¬
und Kassenstück, sogar in Amerika, werden. In einer „Concordia¬
Matinee wurde dann das „Abschiedssouper versucht, und Schnitzler
hat es oft lachend erzählt, wie bei den lustigen Worten der
„Annie" aus dem Publikum keine Räsonnanze kam, bis sie
sich genäschig, wie die süßen Mädchen einmal sind, über die
Indianerkrapfen hermacht. Aber dies war doch nur ein
Experiment, ob nicht wenigstens das Bühnenmöglichste der kleinen
Stücke zu wagen wäre. Dann hat Jarno die „Frage an das
Schicksal mit der köstlichen Pointe von dem Manne, der nicht
die Wahrheit über die Treue seiner Geliebten erfahren will,
gebracht, dann, irre ich nicht, die „Episode — wie steigt
hier aus vergilbten Liebesbriefen wieder eine ganze verklungene
Jugend auf! Dann gab das Volksthäter den ganzen Zyklus.
Man weiß noch, wie der Dialog in den „Weihnachtseinkäufen
zwischen Gabriele, der jungen Frau der Gesellschaft, und vom
verliebten Schwärmer Anatol, der ihr zuerst von den süßen,
verschwiegenen Erlebnissen der Vorstadt erzählt, wie diese Szene
auf dem verschneiten Christkindlmarkt eingeschlagen, und erst
„Anatols Hochzeitsmorgen", wo der liebenswürdige Sünder, von
den Armen seiner Freundin festgehalten, beinahe zur eigenen
Hochzeit zu spät gekommen wäre. Erst da man den ganzen
Zyklus an sich vorüberziehen sah, erkannte man seinen
künstlerischen Timbre, den man jetzt wieder in der Reinhardt¬
Aufführung erkennt. So groß der Weg ist, den Schnitzler seit dem
„Anatol" bis zum „Jungen Medardus" und dem „Schleier der
Beatrice" gegangen, man findet die Spuren dieses Erstlings noch
bis zuletzt in der „Komödie der Verführung". Darum dankt
man es Reinhardt, daß er uns jetzt, da man das reiche Schaffen
eines reifen Meisters zu übersehen vermag, durch diese Aufführung
Einblicke und Rückblicke in diese scharmanten Anfänge gewährte.
Ueber die Darstellung ist bereits gesprochen worden. Sie trug
vor allem durch Waldaus reizvolle Dialogunst als Anatol,
Reiner als Max, Fräulein Kneidinge, Fein, Hagen,
Frau Terwin Moissi und durch die überschäumende
Lustigkeit Fräulein Geßners unter Paul Kalbes klug
abtonender Regie zum vollen Erfolg des Schnitzler=Abends bei.
P. W.