II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 518

4.9. Anatol - Zyklus
Neues Theater.
Arthur Schnitzlers Anatole-Zollus ist vom Schen¬
spielhaus in der Theater übergesiedelt und mit
ihm als Gast Herr Lengbach, wie für das Liselotten¬
Stück Frau Hartmann. Wenn es sich um zwei städtische
Bühnen handelte, wäre gegen freundnachbarliches Ausleihen
nichts zu sagen. Der Fall liegt aber anders: Das von der Stadt
schwer unterstützte Schauspielhaus beurlaubt zu Gunsten der Kon¬
kurrenz Künstler, deren Gagen im Etat weiterlaufen. So sehr
den Verliehenen doppelte Einnahmen zu gönnen sind, zur Ver¬
minderung des Fehlbetrags der städtischen Bühnen tragen solche
Freundlichkeiten nicht bei. Wir müssen fiskalisch denken und
unsere Künstler ausnützen. Weder Frau Hartmann noch Herr
Lengbach wüßten darauf beschränkt bleiben, an der Bühne, der si¬
vertraglich verbunden sind, zu gastieren. Wir können ihnen und
uns diesen Luxus nicht erlauben. Es muß möglich sein, ihnen an
Vaterhaus Aufgaben zu schaffen, die Geld einbringen, die ihre
Gagen decken. Es ist doch nicht so, daß die Verwendbarkeit der
beiden Künstler fraglich wäre. Frau Hartmann ist eine der besten
deutschen Charakterdarstellerinnen, Herr Lengbach hat in Liliom,
Bürl“, als „Bolz und in anderen Stücken oft volle Häuser gehabt.
Man steht: es gibt durchaus tragfähige Stücke für Talente
älterer Schule, zu denen Lengbach gerechnet wird. Einst¬
weilen macht der Abservierte als Anatol Kasse. Man kennt seine
fünf Wiener, den Verliebten mit leichtem Gewissen, den Ahnungs¬
vollen, der bangt, das Unbetretene zu betreten, den betrogenen
Betrüger, den Enttäuschten, der erfährt, daß seine große Liebe
der Frau nur schattenhafte Erinnerung ist, den Hochzeiter in
drangvoller Bestürzung Lengbachs Charme, seine Gewandtheit,
seine Politesse und Gerissenheit nahmen wieder wie vor Jahren
für ihn ein und das rein Wienerische stand ihm wahrlich nicht
im Wege. Partner war ihm viermal Herr Wallburg, dessen
trockene Komit zur weichen Note Lengbachs glücklich kontrastierte.
Bis auf die überrumpelte Ilona, die von Frau Sagan weit
östlich von Wien transferiert und zu einer rassigen brillanten Stu¬
die ausgebaut wurde (der Himmel hüte uns vor Frauennerven¬
Krisen!) und die Annie, die von Frl. Schwarz für meinen Ge¬
schmack zu turbuler, und gellend war, treten die Damen in den fünf Ein¬
aktern weniger hervor. Frl. Reiters Gabriele gab zu wenig Ahnung
von ihrer Lebenswolke, zu wenig Schmerz um ungeküßte Küsse,
die Cora des Frl. Zernin hat keine Gelegenheit, Physiognomi¬
zu zeigen, die Bianca des Frl. Asdor-Serna hatte nicht
viel Umriß. Herr Dr. Frank, der den Zyklus leitete, ließ ihn
hinter einem Oval spielen, das dem Abstand vom Wien des Heute
geschickt markierte. Er war Schnitzler, dessen Dichteringer hier
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Franken. Das Blatt bemerkt dazu, das französische Parlamen¬
werde gezwungen sein, diese Summe ohne Diskussion zu bewilligen.
n
einige Paleichen mit Lebensfragen graziös lösen, behutsam nach
gegangen. Das Intime und Amoureuse, der Husch und die Die
terie kamen heraus. Aber die gedämpfte Beleuchtung als Stim¬
mungsgeberin ist bei einigen Stückchen ich unbedingt erforde
lich, auch der Prolog, den Herr Stanching sprach, verträgt
hellere Töne. In den Dank für den heiteren Abend mischte sich
ein Gefühl der Trauer um das Wien unser Tage. Ob Schnitz¬
ler den „Anatole heute noch schreiben könnte, den Anatol aus dem
Wien des Canaletto, Wien von gestern, Wien von morgen,
ck.
Wien in aberhundert Jahren
Stadttheater in Gablonz a. N.
19. Oktober: „Anatal, vier Akte von Artur
— Es wäre verlockend, zu untersuchen,
der Schnitzlerischen Muse — trotz alle
beredsamen Verehrung — volksbildende, d. h. hier
aufbauende, Edelwerte schaffende Kraft zu eigen
ist; leider reichen hiezu Raum und Zeit nicht
aus. Die scharfe Beobachtung des verfallenden
Lebens, dessen geschickte oft verblüffende Dar¬
stellung und namentlich die Schnellflüssigkeit der
Wechselrede sind wahrhaftig beyden an die=
sem Rüstzeuge kann man seine Freude haben.
Für manche scheint das freilich genug zu sein;
„Anatol wurde mit starten Bern aufgenom¬
men. Zum guten Teil war dieser allerdings den
Darstellern gedacht, besonders nach dem Ab¬
schied souper, in dem Adi Hahn der Annie eine
so leibhaftige Charakterisierung verlieh, daß ihr
weinlustiges Lachen auch ein leibhaftiges Echo
in Zuschauerraume fand. Aber auch Otto
Braun wurde für seinen Anatol herzlich be¬
dant; er gab ihn mit viel Natürlichkeit ohne ihn
einseitig anzustreichen. Den schattentreuen Be¬
gleiter Mar stattete Fritz Horn mit der er¬
wünschten Zurückhaltung aus. Von den weiblichen
Begegnungen Anatols interließ außer Annie
noch Flona (Adrienne Berahineinen star¬
ten Eindruck. — Unwillen ingelhafte
Einhaltung der Theaterorden Beginne der
einzelnen Akte hervor; strafte Zucht wäre hier
dringend gebeten. An die Glockenzeichen mü߬
ten mit einer den sich gleichbleibenden
En werden
Regelmäßigkeit
Musikalisch, 1923