II, Theaterstücke 4, (Anatol, 8), Anatol, Seite 694

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4.9. Anatol - Zyklus
Potenturmstr. 23
„Anatol im Schulzimmer
Eine Einz.
Und wieder läutet die Glocke heiser und durchdringend.
Man begibt sich langsam vom Gang in die Klasse, müde und
erwartungslos. Allmählich verebbt der dumpfe, summende
Lärm der Pause; es wird still in dem ganzen Gebäude. Die
Tür knarrt, alle erheben sich klappernd von den Sitzen, als
der Professor eintritt. Hie und da gähnt einer verstohlen.
Man weiß ja schon in voraus, was nun geschehen wird
man glaubt nicht mehr, daß sich etwas Neues, Unerwartetes
ereignen könnte. Es ist heute wie gestern und es wird morgen
ebenso sein. Seltsam und verwirrend daher daß es gerade
heute anders kommt. Schnitzle, soll gelesen werden —
Anatol — aus irgendeinem gleichgültigen Grund. Mehr
Zufall eigentlich als Absicht. Ja, es ist wirklich so, wenn es
auch noch so unwahrscheinlich klingt.
Das fahle Licht des vernebelten Herbstmorgens dringt
durch die schmutzigen Scheiben in das Zimmer, streicht über
graugetüchte Wände, über den Buntdruck der Schlacht von
sten
Gravelotte und die topographische Darstellung der Rax, die
dort hängt, streicht über die gelblackierten Bankreihen, über
die mit halbverwischten Formeln und Figuren bedeckte Tafel,
über den wackligen Katheder, wo der Professor sitzt und liest.
echt,
Er hat beide Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und spricht
kelte
leise und verhalten, mehr zu sich als zu seinen Zuhörern. Es
scheint, als käme seine Stimme plötzlich von weit, weit her.
le
Ein fremder und verhangener Klang ist in ihr, ab und zu
den
hebt er die Arme mit einer schüchternen, ein wenig hilflosen

Geste Sein Katalog liegt verschlossen vor ihm, auf einer Ecke
des Katheders kürmt sich, weit weggerücht, ein blauer Stoß
lle¬
von Heften. Und merkwürdig, jetzt erst nimmt man wahr,
daß er eigentlich noch ziemlich jung ist, der Professor, wie er
so dasitzt auf seinem Sessel, schaukelnd, versunken — ver¬
Kind
loren in dem spielerischen Ernst und der zarten Trauer der
einen
Dichtung.
auch
Anatole — es ist ein Hauch von warmen, duftschweren
an
Früherbstnächten darin, in die der scheidende Sommer noch
einmal seine ganze Glut, seine ganze Inbrunst strömen läßt
Sepp
und die doch auch die Ahnung des grauen, wolken¬
verhangenen Morgens in sich tragen, an dem die ersten
legen
Blätter sich lösend langsam zu Boden sinken. Lächerlich¬
ende
keit, Lüge und Leid der Liebe schweben zitternd und haschend
dem
wie spielende Schatten durch dämmerige Zimmer. Schwere,
uchte
nisternde Portieren halten die harte und kalte Helle des
Tages ab, in der die Träume erfrieren. In den Winkeln und

Ecken flüstert es leise von welken und verwehten Dingen.
es
Draußen rauschen die halbentlaubten Bäume. Und von fern
vernimmt man ein paar Geigentöne, voll wissender Wehmut
sturz.
der Todesreise.
Das ist „Anatol. Sein sanft betäubender und ein
le
wenig modriger Duft flattert bang in der stichigen, dumpfen
Atmosphäre von Staub, Tinte und Schweiß, die in dem
Schulzimmer lastet. Einige unter den Zuhörern schauen
mit dem pflichtgemäß interessierten Blick des ordentlichen
Schülers in die Luft, einer lernt halblaut für die Physik¬
de
prüfung in der nächsten Stunde: „Das magnetische Moment
ist das größte Drehmoment des
ken,
Aber manche scheinen nachdenklich und bedrückt.
Wirre Träumen steigt in ihnen auf, halb verschwommene
der¬
Bilder und Erinnerungen, dazwischen etwas wie Auflehnung
und Widerstand und ein ungewisses Gefühl von sehnsüchtigem
ge,
Staunen. „Was ist das?“ denken sie, während der müden,
sitze
graziösen, geheimnisvollen Szenen. „Ist das das Leben?
Ist es das? Ein paar Strahlen der trüben Herbstsonne
tasten die Wände entlang
Und dann schrillt wieder die Glocke. Die Sitze klappern,
die Tür knarrt, einer wiederholt jetzt schon laut: „Das
magnetische Moment ist das größte Drehmoment des ...
Und ein letzter Duft und ein letztes Lächeln werden fort¬
zergeschwemmt und gehen unter in dem allmählich das ganze
Gebäude erfüllenden Lärm der Pause
Georg Veer
wu
der
hat
OBSERVER
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WIEN, I., WOLLZEILE 11
TELEPHON R-23-0-43
Ausschnitt aus:
Ausschnitt aus
ben in
20.10.193
Nr. vom
Ein Brief Arthur Schnitzlers
an eine Nürnbergerin
Gar mancher, der Schnitzlers „Anatol" gelesen hat, wunderte
sich über die den 7 modernen Szenen vorausgeschickte Einleitung von
Loris Hofmannsthal, die, als reines Rokokostimmungsbild,
wenig zu diesen realistischen Begebenheiten aus unseren Tagen zu
passen scheint. Dies Problem beschäftigte auch vor vielen Jahren
eine jugendliche Verehrerin des Dichters und — Ungeniert wie die
Jungen nun einmal sind — setzte sie sich hin und fragte bei Schnitz
ler ganz einfach nach den Motiven dieser Zusammenstellung an, die
sie sich trotz allen Grübelns nicht erklären könne. Hier die post¬
wendend eingelaufene, eigenhändig geschriebene Antwort, die hie¬
mit zum ersten Male veröffentlicht wird:
Verehrtes Fräulein, grüheln Sie nicht weiter. Der Zusammen¬
hang zwischen dem Einleitungsgericht von Loris und den sieben
Szenen des Anatol ist eius later, in einer Stimmung
begründe er. Vielleicht können sagen: wenn der Anatol vor
100 Jahren geschrieben worden wäre sollte man ihn in den von
Loris gedichteten Angaber fielen. Aber auch das in schon
grob ausgedrückt und daher kaum wahr. Vielleicht würden Sie
auch einen Zusammenhang spüren, wenn Sie sich einmal in
Schönbrunn, dem Park bei Wien, auf eine der steinernen Bänke
setzten und beispielsweise „Agonie" läsen. Aber wenn Sie einmal
auf so einer Pank sitzen werden, haben Sie hoffentlich was
Gescheiteres zu tun.
Vielmals grüßend
Arthur Schnitzler.
Wien, 18. 12. 1900.
Beglückt hob die Empfängerin diesen Brief auf; als sie viele
Jahre später einmal nach Wien reiste, da nahm sie den Anatol mit
und las, auf einer steinernen Bank im Schönbrunner Park sitzend,
den ganzen Band durch. Und obwohl sie keine Dichterin war,
spürte sie leise den inneren Zusammenhang zwischen Loris Kava¬
lieren des anciem regime und Schnitzlers modernem Helden.