9. L.
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Kunst und Literatur.
Landestheater. — Ein Schnitzler¬
abend. — Das moderne Drama neigt sich in
seiner Structur immer mehr dem Novellenhaften
zu. Man hat die äußere Handlung zurückge¬
drängt und will sich darauf beschränken, die
inneren Motive, das innere Vorsichgehen einer
Handlung darzustellen. Dadurch werden an den
Schauspieler Forderungen gestellt, die ein genaues
und künstlerisch schauendes Lebensstudium er¬
fordern. Schnitzler malt in Dialogen die Mängel
der modernen Gesellschaft, wie in einer Novelle
blos mit den dialogischen Mitteln, und die
Analyse, die Prosa, müssen die Schauspieler
durch ihr Spiel ergänzen. Für unser Theater
ist das freilich eine große Aufgabe, sowohl für
die dramaturgische Leitung, wie für die Dar¬
steller selbst.
Der erste Einacter des vorgestrigen Pre¬
mièreabends, „Literatur“ wurde noch am
glimpflichsten behandelt. Es ist ein etwas
bitteres, aber bis zur Komik gesteigertes Bild
der modernen literarischen Bewegung, die mehr
Dilettanten als Talente mitzuziehen vermag,
da sie das Leben des Einzelnen als einzige
künstlerische Wahrheit darstellt. Die Margarethe
muß daher ein Blaustrumpf reinsten Wassers
sein, mit dem matten Glanz blonder, berücken¬
der Haarflechten und saphirblauer Augen. Mit
einem etwas emancipirt=burschikosen Auftreten,
der die vornehm erzogene Convention zu ver¬
drängen sucht, aber es nicht vermag. Es ist für
Margarethe blos ein Plaisir — wie das Reiten,
und statt im Sattel mit ihrem Liebhaber dahin
zu sausen, quält sie die wenigen Unzen Ver¬
standes, das kleine, hausbackene Herz eines All¬
tagsmenschen mit dem Wahne großer Idren,
mit der Empfindung rasender Leidenschaften —
alles, was sie nicht besitzt, blos im Durchschnitts¬
maße. Frau Ruziéka=Strozzi liegt offen¬
bar diese Rolle nicht. Dieser stets larmoyante
Ton, diese thränenhaft classische Diction, diese
immer correcte Pose einer shakespeare'schen He¬
roine sind da nicht am Platze. Da muß Leben,
das künstlich potencirt gewollte Leben des Ge¬
nießens, discret in den intimen Momenten her¬
ausgekehrt und ebenda gezeigt werden, wie sich
die gute Margarethe nicht von den Gefühlen
einer närrisch verliebten Probirmamsell unter¬
täten verlangt, wurde schlecht gespielt und noch
schlechter besetzt. Die Rolle Radenmachers paßt
für Freudenreich nicht, nicht er hätte den
kranken Schauspieler spielen sollen. Das schlechte
Spiel erreichte aber im „Grünen Cacadu“
seinen Höhepunkt. Daß die Censur einige revo¬
lutionäre Ausfälle gestrichen, ist begreiflich, aber
daß sie etwas gestrichen, was in der „Literatur“
in viel ärgerer und gröberer Form gesagt wird,
zeigt eines andern Censors Hand. Von dem Rococo
des Sièele Louis XVI. haben weder Landes¬
theater noch Schauspieler eine blasse Vorstellung.
Die Costüme sind Louis XIV., XV. und Empire
à la Cour. Wenn die Herren in eine Schänke
nach Laséina gehen, ziehen sie sicher keinen
Frack an, und der Herzog von Cadigeon, wenn
er zum „Grünen Cacadu“ geht, nicht jenes
Kleid, das er beim Couchet des Königs anhat.
Es war damals die Zeit des Amerikanismus
und der Anglomanie, die die Trachtvereinfachte
Die vorgestrigen weiblichen Trachten waren.
geradezu wie 1884, einfärbig, so wie Alt¬
Wien! Wenn Garderobier und Regisseur
„Ueber Land und Meer“ zur Hand nehmen, so
finden sie Bilder aus der Zeit
die nichts
als treue Costüme enthalten — sie mögen sie
ausschneiden und danach schneidern und arran¬
giren. Aber auch die Costüme würde man ver¬
schmerzen, wenn nur ein leiser Zug des raffi¬
nirten Rococos das Stück durchwebt hätte.
Jene Grazie, jene feine Galanterie, jene geist¬
reiche Stilisation, die uns von Voltaire und
von den winzigen Schuhschnallen entgegenweht.
Das war alles Gegenwart, rohe rücksichtslose
Gegenwart. Das Ensemble des Landestheaters
veranstaltete lediglich ein Costümfest. Warum gibt
man unseren Schauspielern über das Rococo
keine Aufklärung, keine Anregung? Das ist eine
Frage, auf die die unterlassene Pflicht des Dra¬
maturgen antworten könnte. Die einzige, die in
das Spiel Stil und Zeit brachte, war Frl.
Mihiéié, schade, daß ihr das Schlußwort, die
Pointe des Stückes aus dem Munde genommen
wurde. Herr Raskovié war eine lebende
Porcellan=Figur aus echtem Sévres — aber die
Figur erheischt Leben und weniger ungestüme
Bewegungen und Laute. Herr Borstnik war
méchant, unerträglich. Schreien — so heiser zu
schreien, ist keine Kunst, es ist frei nach Zela¬
zowski ein Conglomerat von Othello, Franz
Moor und Tabarin.
V. L.
Wegen Erkrankung der Frau Mizi“
Freudenreich mußte die Aufführung der
Operette „Die Geisha“ gestern entfallen
und geht auch heute statt derselben das Aus¬
stattungsstück „Die Reise um die Erde in
80 Tagen“ in Scene, Morgen um halb 6 Uhr
Nachmittags gelangt Nestroys „Lumpaci
Vagabundus“ als Faschingdinstags=Vor¬
stellung zur Aufführung.
Die Karten für die beiden Aufführungen der
Geisha“ wollen, insoweit dies noch nicht der
Fall ist, gegen Entgegennahme des betreffenden
Betrages, und zwar heute oder Mitt¬
woch, retournirt werden, da für die bevor¬
stehenden Aufführungen der genannten Operette
neue Karten ausgegeben werden. Morgen,
Dinstag, findet wegen des Gagetages keine
Relournirung statt.
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Kunst und Literatur.
Landestheater. — Ein Schnitzler¬
abend. — Das moderne Drama neigt sich in
seiner Structur immer mehr dem Novellenhaften
zu. Man hat die äußere Handlung zurückge¬
drängt und will sich darauf beschränken, die
inneren Motive, das innere Vorsichgehen einer
Handlung darzustellen. Dadurch werden an den
Schauspieler Forderungen gestellt, die ein genaues
und künstlerisch schauendes Lebensstudium er¬
fordern. Schnitzler malt in Dialogen die Mängel
der modernen Gesellschaft, wie in einer Novelle
blos mit den dialogischen Mitteln, und die
Analyse, die Prosa, müssen die Schauspieler
durch ihr Spiel ergänzen. Für unser Theater
ist das freilich eine große Aufgabe, sowohl für
die dramaturgische Leitung, wie für die Dar¬
steller selbst.
Der erste Einacter des vorgestrigen Pre¬
mièreabends, „Literatur“ wurde noch am
glimpflichsten behandelt. Es ist ein etwas
bitteres, aber bis zur Komik gesteigertes Bild
der modernen literarischen Bewegung, die mehr
Dilettanten als Talente mitzuziehen vermag,
da sie das Leben des Einzelnen als einzige
künstlerische Wahrheit darstellt. Die Margarethe
muß daher ein Blaustrumpf reinsten Wassers
sein, mit dem matten Glanz blonder, berücken¬
der Haarflechten und saphirblauer Augen. Mit
einem etwas emancipirt=burschikosen Auftreten,
der die vornehm erzogene Convention zu ver¬
drängen sucht, aber es nicht vermag. Es ist für
Margarethe blos ein Plaisir — wie das Reiten,
und statt im Sattel mit ihrem Liebhaber dahin
zu sausen, quält sie die wenigen Unzen Ver¬
standes, das kleine, hausbackene Herz eines All¬
tagsmenschen mit dem Wahne großer Idren,
mit der Empfindung rasender Leidenschaften —
alles, was sie nicht besitzt, blos im Durchschnitts¬
maße. Frau Ruziéka=Strozzi liegt offen¬
bar diese Rolle nicht. Dieser stets larmoyante
Ton, diese thränenhaft classische Diction, diese
immer correcte Pose einer shakespeare'schen He¬
roine sind da nicht am Platze. Da muß Leben,
das künstlich potencirt gewollte Leben des Ge¬
nießens, discret in den intimen Momenten her¬
ausgekehrt und ebenda gezeigt werden, wie sich
die gute Margarethe nicht von den Gefühlen
einer närrisch verliebten Probirmamsell unter¬
täten verlangt, wurde schlecht gespielt und noch
schlechter besetzt. Die Rolle Radenmachers paßt
für Freudenreich nicht, nicht er hätte den
kranken Schauspieler spielen sollen. Das schlechte
Spiel erreichte aber im „Grünen Cacadu“
seinen Höhepunkt. Daß die Censur einige revo¬
lutionäre Ausfälle gestrichen, ist begreiflich, aber
daß sie etwas gestrichen, was in der „Literatur“
in viel ärgerer und gröberer Form gesagt wird,
zeigt eines andern Censors Hand. Von dem Rococo
des Sièele Louis XVI. haben weder Landes¬
theater noch Schauspieler eine blasse Vorstellung.
Die Costüme sind Louis XIV., XV. und Empire
à la Cour. Wenn die Herren in eine Schänke
nach Laséina gehen, ziehen sie sicher keinen
Frack an, und der Herzog von Cadigeon, wenn
er zum „Grünen Cacadu“ geht, nicht jenes
Kleid, das er beim Couchet des Königs anhat.
Es war damals die Zeit des Amerikanismus
und der Anglomanie, die die Trachtvereinfachte
Die vorgestrigen weiblichen Trachten waren.
geradezu wie 1884, einfärbig, so wie Alt¬
Wien! Wenn Garderobier und Regisseur
„Ueber Land und Meer“ zur Hand nehmen, so
finden sie Bilder aus der Zeit
die nichts
als treue Costüme enthalten — sie mögen sie
ausschneiden und danach schneidern und arran¬
giren. Aber auch die Costüme würde man ver¬
schmerzen, wenn nur ein leiser Zug des raffi¬
nirten Rococos das Stück durchwebt hätte.
Jene Grazie, jene feine Galanterie, jene geist¬
reiche Stilisation, die uns von Voltaire und
von den winzigen Schuhschnallen entgegenweht.
Das war alles Gegenwart, rohe rücksichtslose
Gegenwart. Das Ensemble des Landestheaters
veranstaltete lediglich ein Costümfest. Warum gibt
man unseren Schauspielern über das Rococo
keine Aufklärung, keine Anregung? Das ist eine
Frage, auf die die unterlassene Pflicht des Dra¬
maturgen antworten könnte. Die einzige, die in
das Spiel Stil und Zeit brachte, war Frl.
Mihiéié, schade, daß ihr das Schlußwort, die
Pointe des Stückes aus dem Munde genommen
wurde. Herr Raskovié war eine lebende
Porcellan=Figur aus echtem Sévres — aber die
Figur erheischt Leben und weniger ungestüme
Bewegungen und Laute. Herr Borstnik war
méchant, unerträglich. Schreien — so heiser zu
schreien, ist keine Kunst, es ist frei nach Zela¬
zowski ein Conglomerat von Othello, Franz
Moor und Tabarin.
V. L.
Wegen Erkrankung der Frau Mizi“
Freudenreich mußte die Aufführung der
Operette „Die Geisha“ gestern entfallen
und geht auch heute statt derselben das Aus¬
stattungsstück „Die Reise um die Erde in
80 Tagen“ in Scene, Morgen um halb 6 Uhr
Nachmittags gelangt Nestroys „Lumpaci
Vagabundus“ als Faschingdinstags=Vor¬
stellung zur Aufführung.
Die Karten für die beiden Aufführungen der
Geisha“ wollen, insoweit dies noch nicht der
Fall ist, gegen Entgegennahme des betreffenden
Betrages, und zwar heute oder Mitt¬
woch, retournirt werden, da für die bevor¬
stehenden Aufführungen der genannten Operette
neue Karten ausgegeben werden. Morgen,
Dinstag, findet wegen des Gagetages keine
Relournirung statt.
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