IV, Gedichte und Sprüche 2, Bemerkungen, Seite 10

2. Bene
rkungen
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Manche flüchten sich in den Wahnsinn wie andere in den Tod;
und beides kann sowohl Mut als Feigheit gewesen sein.
Erinnerungsfälschung, das ist die ohnmächtige Rache, die unser
Gedächtnis an der Unwiderruflichkeit alles Geschehens nimmt.
Mancher pflegt den Abfall von einem Freund, einer Geliebten,
einer übernommenen Pflicht mit dem Gebot der Treue gegenüber
sich selbst zu entschuldigen — was oft genug nichts anderes be¬
deutet als die bequemste und feigste Art der Selbsttäuschung.
Denn, wie wenige kennen die Gesetze ihrer eigenen Entwicklung so
genau, daß sie entscheiden könnten, ob sie mit solcher Treulosigkeit
gegen einen Menschen oder eine Sache nicht zugleich die schlimmste
gegen sich selbst begangen haben?
Es gibt eine einzige Art von Enttäuschung, die zu erleben uns
in jedem Falle erspart bleibt: Das ist die, die uns von der Nachwelt
kommen könnte — wenn wir sie erlebten. Aber wer die Anlage
dazu hat, ahnt auch die voraus — und so fehlt es nicht an Ver¬
bitterten der Unsterblichkeit.
Selbsterkenntnis ist fast niemals der erste Schritt zur Besse¬
rung, aber oft genug der letzte zur Selbstbespiegelung.
Für die meisten Menschen bedeutet eine Wohltat, die sie er¬
fahren haben, nicht so sehr eine Gelegenheit, ihre Dankbarkeit,
als vielmehr eine, ihre Unbestechlichkeit zu beweisen. Das kommt
ihnen nicht nur seelisch beträchtlich billiger zu stehen, sondern
erhöht überdies ihr Selbstgefühl manchmal so sehr, daßt sie sich
bald über ihren Wohltäter erhaben dünken.
Nichts tragen wir einem Menschen unversöhnlicher nach, als
wenn er, ob auch absichtslos, uns in die Gelegenheit versetzte,
gerade in unserer Beziehung zu ihm die üblen Seiten unserer Natur
zu entwickeln — oder uns gar erst Anlaß gab, sie zu entdecken.
Was soll mir ein Zeiger, der sich so rasend schnell drcht, daß
er tausendmal in einem Tag die richtige Minute und doch niemals
die richtige Stunde weist?
Ob ein Mensch dich betrogen, bestohlen oder verleumdet habe
es könnte immer noch die Möglichkeit einer Versöhnung, ja
selbst eines späteren reinen Verhältnisses zwischen dir und ihm
bestehen. Ja, wenn es sich praktich durchführen läßtt.
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