IV, Gedichte und Sprüche 2, Bemerkungen, Seite 13

2. Benerkungen
Dr. Max Goldschmidt
Büro für Zeitungsausschnitte
Teleion: Norden 3051
BERLIN N4
Trager Taablatt
5 Juni 162
Artur Schnitzler:
Bemerkungen.
Wir finden diese Aufzechnunen Artur
Schnitzlers im Berliner „agebucht:
Eine als Irrtum erkannte Meinung ohne
falsche Scham aufzugeben, das ist vielleicht die
wunderbarste Kraftersparnis, die unserem Geist
gegönnt ist; und zugleich die, von der wir am
seltensten Gebrauch machen.
Manche flückten sich in den Wahnsinn wie
und beides kann sowohl
andere in den Tod;
Mut als Feigheit gewesen sein.
Erinnerungsfälschung, das ist die ohnmäch¬
tige Rache, die unser Gedächtnis an der Un¬
widerruflichkeit alles Geschehens nimmt.
Mancher pflegt den Abfall von einem Freund.
einer Geliebten, einer übernommenen Pflicht
mit dem Gebot der Treue gegenüber sich selbst
zu entschuldigen — was oft genug nichts an¬
deres bedeutet als die bequemste und seigste
Art der Selbsttäuschung. Denn, wie wenige
kennen die Gesetze ihrer eigenen Entwicklung so
genau, daß sie entscheiden könnten, ob sie mit
solcher Treulosigkeit gegen einen Menschen oder
eine Sache nicht zugleich die schlimmste gegen
sich selbst begangen haben?
Nichts tragen wir einem Menschen unver¬
söhnlicher nach, als wenn er, ob auch absichts¬
los, uns in die Gelegenheit versetzte, gerade in
unserer Beziehung zn ihm die üblen Seiten
— oder uns gar
unserer Natur zu entwickeln
erst Anlaß gab, sie zu entdecken.
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J. 121 U
Nr. 1.
DiE BEREITSCHAFT.
Seite 12.
Bemerkungen.
Von Artur Schnitzler.
Allzu viel Seelenkraft verschwendet oft der ehrliche Bekenner an die
leidenschaftliche Bekämpfung von Ansichten, an die manche von denen im
Innersten garnicht glauben, die sich als ihre Anhänger, ihre Verfechter, ja
gelegentlich als ihre Märtyrer aufspielen. So ist — wie in den meisten an¬
deren menschlichen Bezichungen — auch in der Politik der innerlich Un¬
beteiligte dem wahrhaft Beteiligten gegenüber stets im Vorteil. Denn
während für jenen auch eine Niederlage eine gewissermaßen nur sportliche
Bedeutung beansprucht, setzt der innerlich Beteiligte in jedem Fall sein
ganzes Wesen für seine Ueberzeugung ein, zahlt auch als Sieger immer noch
einen höheren Preis als der andere und verliert mehr und Besseres, als der
andere jemals verlieren könnte.
Wie man den Alkoholismus an sich schon ein Laster zu nennen pflegt,
vor allem um der Verbrechen willen, deren Ursache er sein kann, so wäre
man wohl berechtigt, auch jede Art von parteimäßiger Gesinnung als Laster
zu bezeichnen, da es kaum eine verbrecherische Handlung gibt, zu der jene
nicht Anlaß oder Vorwand bieten kann, und weil sie überdies geradeso wie
der Alkoholismus als mildernder Umstand für begangene und als Freibrief
für etwaige künftige Verbrechen ausgenützt und entschuldigt zu werden pflegt.
Es gibt nur drei absolute Tugenden: Sachlichkeif, Mut und Verant¬
wortungsgefühl; diese drei schließen nicht nur alle andern gewissermaßen
ein, sondern ihr Dasein paralysiert sogar manche Untugenden und Schwächen,
die gleichzeitig in der selben Seele vorhanden sein mögen.