V, Textsammlungen 1, Die Frau des Weisen. Novelletten, Seite 1

V. Anthologies, Collected Vorks
au des Neisen box 35/6
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1. 51

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Nr. 6
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Ausschnitt aus „Fremdenblatt“
12. MAl 1898
vom
Bücher.
(Die Frau des Weisen.) Novelletten von Arthur Schnitzler.
Man braucht nicht mehr zu sagen, wer Arthur Schnitzler ist. Jedermann kennt
seine scharf ausgeprägte Physiognomie, Jedermann kennt ihn als den seinen
Künstler, der für die Wiedergabe von wienerischer Stimmung und wienerischem
Tone seine eigene Art gesunden hat. Johann Strauß'scher Walzer, versetzt mit
einer starken Dosis von Lebenserfahrung; eine durch spielerischen Leichtsinn
gemilderte Skepsis; viel Genußfreude und etwas Müdigkeit; ein Ineinander¬
klingen von Wehmuth und Blasirtheit — das sind so einige der hervorstechendsten
Züge von Schnitzler's Schriften. So stellt er sich energisch ausgesprochen in
„Liebelei“ dar, so auch in dem eben erschienenen Bande: „Die Frau des Weisen“
Außer der Novellette, die dem Buche seinen Titel gibt, enthält dieses noch
vier Stücke: „Ein Abschied", „Der Ehrentag", „Blumen“ und „Die Todien
schweigen". Die letztgenannte Novelle kannten wir bereits aus der dreisprachigen
Revue Cosmopolis“ und aus einer Vorlesung Hermann Bahr's, der der meister¬
haft geführten Novellette zu elementarer Wirkung auch auf den Hörer verhalf,
nachdem sie Schwarz auf Weiß den Leser gefangengenommen hatte. Wir halten
„Die Todten schweigen“ für eines der besten Werke erzählender Kleinkunst deutscher
Zunge. Eine Welt in einer Nuß! Als Heldin der Geschichte erscheint eine Frau,
die auf einer heimlichen Spazierfahrt mit ihrem Liebhaber diesen durch einen
Unfall verungücken, sterben sieht, trotz der entsetzlichen Episode und angesichts des
jungen Leichnams aber nur das eine Bestreben begt, rechtzeitig nach Hause
gelangen, um anwesend zu sein, wenn ihr Gatte zum Mittagessen
zu
kommt. Zur Stunde ist sie an Ort und Stelle, sie sieht sich gerettet. Aber nun.
nachdem alle Gefahr scheinbar überwunden ist, überkommen sie Schreck, Reue,
Furcht, traumhafte Vorstellungen, eine solche Schwäche bewältigt sie, daß sie ein¬
schlummert. Während des Schlafes schreit sie entsetzt auf. Sie hat von dem
Todten geträumt, aber, wie um sich zu beruhigen, sagt sie sich: „Die Todten
schweigen“; sie sagt es laut, und ihr Mann weiß, daß sie ein Geheimniß zu ver¬
bergen sucht. Er heißt sie, den Jungen zu Bette zu bringen, dann habe sie ihm
wohl etwas zu erzählen. „Ja, antwortet sie. Und nun schließt die Erzählung
in schöner, epischer Ruhe, ohne Pathos und doch voll feierlichen Ernstes: „Und
sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im nächsten
Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird. Und während sie mit ihrem Jungen
langsam durch die Thüre schreitet, immer die Augen ihres Gatten auf sich
gerichtet fühlend, kommt eine große Rube über sie, als würde Vieles wieder gut...“
Wir aber verstehen nun den Titel der Novelle. Er will sich selbst verneinen, denn der
Dichter lehrt uns: Die Todten schweigen nicht, sie reden ihre Sprache, und,
wenn sie ihr Recht erreichen wollen, dann wissen sie sich verständlich zu machen...
In „Die Frau des Weisen“ erinnert ein Mann sich, daß in seinem Jünglings¬
alter eine Frau ihm freiwillig ihre Küsse schenkte, dabei von ihrem Manne überrascht
wurde, welchen Zwischenfall der Jüngling, aber nicht die Frau bemerkte, da der
Mann — als „Weiser“ — sich still entfernte, um nicht eine Szene als betrogener
Ehemanr in Gegenwart eines Dritten aufführen zu müssen. Nach Jahren
kommt das Paar zufällig wieder zusammen, und da entdeckt der Jüngling von einst,
seine Frau nie zur Rechenschaft gezogen hat.
daß der Gatte — der „weise“ —
Sie ahnt nicht, daß dieser sie damals ertappt hat. Die Wirkung, die diese Er¬
fahrung auf den Erzähler, der in der Ich=Form gehaltenen Novellette macht, wird
kurz aber kräftig in die Worte gefaßt: „Mich schauerte vor dem tiefen Verzeihen,
das sie schweigend umhüllte, ohne daß sie es wußte“. Diese Wirkung beraubt die
Frau des Reizes, den sie bislang in den Augen des Berichtenden besessen. Und
wieder überlätt der Dichter es uns, das letzte Wort, „das Ergebniß zu finden“.
Es lantet: Eine Verirrung, die nicht gebüßt wird, sinkt in die Tiefe hinab. Und
wir meinen die Klage Nietzsche's zu hören darob, daß man einem Verbrechen seine
Schönheit genommen habe. . .. So hat jede der fünf Novelletten ihr Besonderes.
Die „Blume“ überschriebene ist ganz merkwürdig durch die Virtuosität, mit der
eine Geschichte nur in Konturen vorgetragen wird und doch plastisch vor unserem
Ange steht. Inhalt: „Eifersucht der lebenden Geliebten auf die todte". Natürlich
ist die Hauptperson kein Fräulein sondern ein „Mödel“. Schnitzler hat diese
Bezeichnung literaturfähig gemacht.
obun der Oremn den astatt
M 444.
44/5. 18.
Die Frau des Weisen. Novelletten von Arthur
Schnitzler. Berlin, S. Fischer.
Wie nahe liegt die Versuchung, Schnitzler einen
Wiener Maupassant zu nennen, und obgleich Dies
nicht ohne eine gewisse Berechtigung geschähe, so wäre
der Vergleich dennoch ein falscher. Er würde dem
feinsinnigen österreichischen Dichter nicht nerecht. Die
elegante Leichtigkeit der Sprache und der Stimmungs¬
zauber, der in allen diesen kleinen Niebesgeschichten
sein Wesen treibt, erinnern an den fraphösischen Meister.
In dem Stile Schnitzler's aber is mehr als elegante
Leichtigkeit, es ist ein Wohllaut„ ine sanfte Harmonie
darin, die das Ohr weich und gisgenehm umtönt. Und
die Phantasie, die auch bei Schnitzler in Jugendfülle
quillt, ist edler, sie tritt itmitten eines feinen philo¬
sophischen Gewebes auf —es ist die gezügelte Phantasie
eines Deutschen. Wer Sinn besitzt für feinsinnige,
poetisch erfaßte Skizzgt aus dem Leben der Gegen¬
wart, für Gebilde, i denen die ganze Wehmuth
unserer zerrissenen Zeit pulsirt, Der wird zugestehen
müssen, daß sich dem jungen österreichischen Schrift¬
steller in diesem/(Genre nur Wenige an die Seite
stellen können. Man kann über die dramatischen
Arbeiten Schnicler's verschiedener Ansicht sein, seine
packenden Skizzen, die selbst voll dramatischen Lebens
sind, werden nur eine Stimme finden. Die heute vor¬
liegenden Arbeiten erscheinen in zweiter Auflage, sie
machen deshalb eine Werthschätzung der einzelnen
Stücke unnöthig. Liebhaber echter moderner Kunst
werden nachhaltigen Genuß in dieser Lecture finden.

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