V, Textsammlungen 3, Dämmerseelen. Novellen, Seite 30

Pren.
N. 00T
Wien, Sonntag
Die Bücher des Jahres.
Der Weihnachtstisch wird, bald gerüstet werden und dann liegt
wieder ein Jahr hinter uns. In der ersten Reihe dessen, was geschenkt
wird, stehen wieder Bücher. Vielleicht, weil in den letzten Jahren an
Buchausstattung das Höchste geleistet wurde, denn einen „Schlager",
nach dem alle griffen, hat das zu Ende gehende Jahr, wie Herr
Kommerzialrat Müller, der Chef der Firma R. Lechner, uns mit¬
teilt, nicht gebracht. Doch wurden zahlreiche Werke häufig und gerne
gekauft. In den Reihen der Lieblinge des Lesepublikums nehmen nach
den Angaben des Herrn Kommerzialrates Müller die „Alten“ noch
immer einen breiten Raum ein. Da ist Heyse mit seinem neuesten
Werke „Gegen den Strom", Rosegger, dessen „Försterbuben“
in wenigen Wochen viele Freunde fanden, Wilbrandt, der junge
Siebzigjährige, mit den „Sommerjäden" und Wildenbruch mit
„Lukrezia: Eine Aufzählung der übrigen literarischen Erfolge des ab¬
gelaufenen Jahres gibt eine Uebersicht von den himmelweiten Abständen,
die zwischen den Geschmacksrichtungen des Lesepublikums herrschen.
Neben Hermann Hesse („Diesseits") steb: da Stilgebauer, der
einen Roman „Der Börsenkönig“ geschrieben hat. „Absolvo te“ der
Viebig hat Aufsehen erregt, aber auch der neueste Roman der
Heimburg („Wie auch wir vergeben“) und ein Werk der Gräfin
Salburg („Wilhelm Friedhoff“) blieben keineswegs unlemerkt. Noch eine
vierte schreibende Frau Riccarda Huch hat mit ihrem „Karupf um Rom viel
Erfolg geerntet. Dann sind noch Adlersfeld =Ballestrem
(„Diplomatenränke“ und „Maria Schnee“), Greinz („Das stille
Nest“), Ompteda („Wie am ersten Tag"), Wolff („Wildfarg¬
recht") und Zahn („Lukas Hochstraßers Haus") auf der Liste ver¬
treten. Wer sich aber durch diesen Haufen von Romanen glücklich durch¬
gearbeitet hat, der greift dann sicherlich nach dem Neuesten, was
Chiavacci, Pötzl und Stüber=Günther gespendet haben.
Für den Weihnachtstisch hat die Firma Lechner ein gediegenes Pracht¬
werk, Petermanns „Wien im Zeitalter Kaiser Franz Joseph l.“
vorbereitet.
Herr Friedrich Schiller, Mitchef der Hofbuchhandlung Perles,
äußert sich: So mächtig der deutsche Bücherwald rauschte, weit und
breit war im Jahre 1906 kein „Jörn Uhl“, kein „Jena und Sedan“ zu
erblicken, kein sensationeller Schlager, doch eine nicht geringe Zahl gang¬
barer und verläuflicher Bücher. Leselustig, lesehungrig ist vor allem die
Damenwelt und die Pausen zwischen Tennis= und Ruderpartie wurden
am Wörther= und am Zellersee von den dort froh vereinten Wienerinnen,
Pragerinnen und Groß=Kanizsaerinnen ausgefüllt mit Berliner Romanen.
„Nachbarin, Euer Jettchen Gebert,“ rief Gretchen (nicht jenes im
Bürgertheater) und Aranka oder Bozena antwortete: Recht gerne, doch
müssen Sie mir Ihren Band von der Viebig mit dem unverständlichen Titel
leihen (Absolvote). — Im Spätsommer erreichte ein Buch binnen wenigen
Monaten eine fünfstellige Auflagenziffer, selbstverständlich wiederum
Berliner Erzeugnis, einer Sammlung bewährter Anekdoten und Scherze,
Witzblättern entnommen und geschickt gruppiert. Moszkowski war der
Herausgeber, der Titel klang sonderbar genug: „Die unsterbliche
Kiste: An wie viel Stammtischen hat sie seither ihre zwerchfell¬
erschütternde Wirkung erprobt? Wir vermissen noch immer den lang¬
ersehnten großen Wiener Roman. Unsere Schriftsteller sollten längeren
Aufenthalt auf dem Kahlenberg nehmen; sie bieten meist nur kleine
Ausschnitte aus dem Wiener Leben. Nach Pötzl, Chiavacci,
Stüber=Günther greifen viele Hände. In Conte Scapinellis
Roman „Phäaken“ sind die Wiener nicht gut davongekommen;
sonst heißt es wohl „wer beschimpft wird, wird gekauft“; aber viermal
versagte ein angeblich sicheres Mittel zum Erfolg — der starke Tadel
in öffentlicher Sitzung. Wer jemals einen Jour gehabt oder besucht,
liebt Auernheimer und kauft seinen neuen Novellenband: „Die
ängstliche Dodo“, die die Erbschaft der treulosen aber munteren Renée
angetreten hat; Schnitzler hat eine treue Gemeinde, seine „Dämmer¬
seelen“ werden manche Träne fließen lassen, manche einsame Stunde
verschönen; in seiner Schätzung begegnen sich die Aestheten mit den Nur¬
Laien. Hoffmannsthal muß sich mit dem Beifall der ersteren begnügen,
er tritt diesmal mit einem Prachtwerk: „Der weiße Fächer“ auf. Wohl zu
keiner Zeit wurden so viele Werke über Kunst und Kunstwissenschaft gedruckt
und — verkauft, wie jetzt seit einigen Jahren. An diesem starken Interesse
für moderne und klassische Kunst hat ja Ihr temperamentvoller
Rufer im Streite, Hevesi, ein großes Verdienst. Den bekannten
Künstlermonographien von Knackfuß gesellten sich zahlreiche ähnliche
Publikationen („Klassiker der Kunst", „Berühmte Kunststätten“ 2c.) zu,
denen die vorgeschrittene Vervielfältigungstechnik niedrige Preise gestattet,
die man noch vor einer Reihe von Jahren für unmöglich gehalten
hätte. Dieselbe Billigkeit zeichnet auch die neuen Gesamtausgaben
moderner und modernster Dichter aus. Gerhart Hauptmann, Ibsen,
Scheffel, Rosegger, Spielhagen, sie werden gewiß in vielen
Fällen, wo die Schul= und Hausklassiker bereits vertreten sind, den
Bücherschatz vermehren. Eine typische Erscheinung des modernen Bücher¬
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8. Dezember 1907

Ausstattung zu einem Einheitspreise, der in den meisten Fällen ungemein
mäßig angesetzt ist, wo die Kalkulation sehr bedeutende Auflagen (zehn¬
bis zwanzigtausend pro Band) zur Basis hat. Es gibt nun schon so
viele Kollektionen, daß die Verleger auf recht eigentümliche Titel ver¬
fallen, z. B. „Bücher der Rose“; sie sind aber nicht für Rosenzüchter
bestimmt; der erste Band heißt „Die Ernte“ und enthält eine Anthologie
deutscher Gedichte, der zweite „Alles um Liebe“, worunter sich die Briefe
Goethes aus der ersten Hälfte seines Lebens verbergen, sodann „Vom
tätigen Leben“, worunter abermals Gedichte Goethes, und zwar aus der zweiten
Lebenshälfte zu verstehen sind. Unter dem „Heiligen Krieg muß man sich
Hebbels Tagebücher und Briefe vorstellen usw. Etwas kompliziert!
Aber die Sammlung selbst verdient und findet die beste Aufnahme.
Der Benjamin unter den Kollektionen nennt sich Liliputbibliothek,
zierliche, geschmackvolle Lederbände, die man bequem in der Westen¬
tasche mitnehmen kann. „Faust“, „Hermann und Dorothea,
„Das Buch der Lieder, „Tell“ und manches andere
klassische Kleinod ist nun in dieser Diminutivausgabe erschienen, den
klaren, lesbaren Druck muß man anerkennen. In Bilderbüchern und
Jugendschriften wendet sich der Geschmack nun immer mehr der
tmodernen Produktion zu, seitdem kluge Verleger Künstler ersten
Ranges, wie Thoma, Schmidhammer, Urban, Leffler, u. a. zu den
Kleinen kommen lassen.
Iun Einlühnn—alektrischen Betriebes auf